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Vsevolod Zaderatsky Manuskript (Auszug)
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Schostakowitsch-Tage in Gohrisch mit Musik aus dem Gulag – eine Uraufführung von Vsevolod Zaderatsky

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Als Musiklehrer beim Zaren brachte er sich in Gefahr. Musik hat ihm in schwierigsten Zeiten das Leben gerettet: Vor 77 Jahren schrieb Vsevolod Zaderatsky ein zweieinhalbstündiges Klavierwerk – im Lager! Erstmals seit Johann Sebastian Bach wieder Präludien und Fugen auf sämtliche Tonarten. Eine Geschichte auch aus dem frühen 20. Jahrhundert.

Die Internationalen Schostakowitsch-Tage Gohrisch kehren an ihren Ursprung zurück. Sie finden in diesem Jahr wieder in der Konzertscheune statt, wo sie im Herbst 2010 aus der musischen Taufe gehoben worden sind. Aus der Kompromisslösung der Folgejahre, jeweils ein großes Konzertzelt zu errichten, weil die Scheune landwirtschaftlich genutzt werden musste, entstand nun die Idee, das weltweit einzige Schostakowitsch-Festival in den Sommer vorzuverlegen. Denn jetzt ist die Scheune noch leer und wird mit Musik gefüllt statt mit Stroh.

Vom 19. bis zum 21. Juni soll also an jenem Ort, wo Dmitri Schostakowitsch die einzige Musik komponierte, die nicht in seiner Heimat entstand, an dessen Aufenthalt in der Sächsischen Schweiz erinnert werden. Der Komponist sollte dort im Sommer 1960 ursprünglich die Filmmusik zu „Fünf Tage – fünf Nächte“ schreiben, doch unter dem Laubdach einer Buche komponierte er sein 8. Streichquartett d-Moll op. 110. Die klingende Biografie eines tragischen Lebens.

Natürlich gehört dieses Quartett zu den Schostakowitsch-Tagen dazu, wurde im Original aufgeführt, erklang als Kammersinfonie in der Fassung von Rudolf Barschai, die Schostakowitsch als op. 110a autorisierte, und wurde in einer szenischen Collage von Isabel Karajan verwendet, die inzwischen auch bei den Osterfestspielen Salzburg gezeigt worden ist.

Im aktuellen Jahrgang soll dieser kammermusikalische Meilenstein des 20. Jahrhunderts vom legendären Borodin-Quartett gespielt werden, das im Rahmen seiner Welttournee zum 70jährigen Bestehen auch in Gohrisch Station machen wird. Mit Arvo Pärt kommt ein weiterer Jubilar in den einzigen Ort Deutschlands mit einem Schostakowitsch-Platz. Counter-Tenor Andreas Scholl wird mehrere Kompositionen des 1935 geborenen Esten als Deutsche Erstaufführung präsentieren, auch Musiker der Sächsischen Staatskapelle führen Werke des nun bald 80-Jährigen auf.

In Gohrisch ist also Moderne angesagt. Dennoch geht es zu den Schostakowitsch-Tagen auch um den Quintenzirkel! Mit dem russischen Komponisten Vsevolod Zaderatsky wird ein nahezu unbekannter Meister der Moderne präsentiert. Einer, der den Brückenschlag zu Altmeister Bach bewältigt hat und dessen Schaffen noch heute von der Kraft der Musik als Lebens- und Überlebensmittel kündet.

Mit dem Quintenzirkel beschäftigen sich Musikwissenschaftler heutzutage entweder im stillen Kämmerlein oder aber in theoretischen Abhandlungen. Johann Sebastian Bach hat sämtlichen Grundtönen der Tonleiter jeweils ein Präludium und eine Fuge sowohl in Dur als auch in Moll zugeordnet. Gleich zweimal nahm er diese Herausforderung auf sich, also besteht das „Wohltemperierte Klavier“ aus 48 Stücken in zwei Teilen. An solch einen kompositorischen Meilenstein hat sich in den folgenden zwei Jahrhunderten niemand herangewagt. Erst Vsevolod Zaderatsky, der 1891 im heute ukrainischen Rivne geboren wurde, ging ein derartiges Unterfangen wieder an. Allerdings nicht in einer Komponierstube und am Klavier, sondern unter unsäglichen Umständen …

Zaderatsky, adliger Abstammung und am Moskauer Konservatorium gründlich in Sachen Musik ausgebildet, was er nach dem Ersten Weltkrieg fortsetzen konnte, unterrichtete ab 1915 als Pianist am Zarenhof in Sankt Petersburg. Er war der letzte Musiklehrer der Zarenfamilie, die Romanows und ihre engsten Vertrauten sind bekanntlich nach der Oktoberrevolution umgebracht worden. Zaderatskys Herkunft sowie diese Anstellung sprachen bei den Sowjets nicht für ihn, zumal er bis zuletzt in der Kaiserlichen Armee kämpfte. Dennoch gab er – bis zur ersten Verhaftung – Klavierkonzerte und galt als beachteter Virtuose. Sein überliefertes Werk spricht für enorme Fingerfertigkeit. Alles, was er vor 1926 komponiert hatte, wurde bei dieser Festnahme aber vernichtet.

Ohne „Recht auf Fehler“

Doch auch in den Jahren der Freiheit hatte dieser Komponist nur wenige Chancen, sein Schaffen breiterer Öffentlichkeit vorzustellen. Er geriet mehrfach in Haft, wurde entlassen, erneut denunziert, kam wieder ins Lager. In den Jahren des „Großen Terrors“ verbrachte der vermeintliche Volksfeind zwei Jahre im Gulag. Dass er diese Zeit nicht nur überlebt hat, sondern währenddessen auch noch kreativ tätig war, klingt wie ein Wunder.

Die Entstehungsgeschichte von Vsevolod Zaderatskys 24 Präludien und Fugen erinnert an die im Nazi-Lager Theresienstadt entstandene Musik jüdischer Komponisten. Ebenso an das im Kriegsgefangenenlager Görlitz komponierte „Quartett auf das Ende der Zeit“ von Olivier Messiaen. Mit dem entscheidenden Unterschied: Als Zaderatsky dieses zweieinhalbstündige Klavierwerk im fernen Osten der Sowjetunion komponierte, dürfte das nächste Klavier wohl meilenweit entfernt gewesen sein.

Er selbst wird vielleicht nicht mal gewusst haben, wo genau er sich damals befand. Erst nach seiner Entlassung wurde bekannt, dass er von 1937 bis 1939 im Komplex des „Nord-Ost-Lag“ war, im Nordosten Sibiriens. Wie seine Frau erfuhr, die eineinhalb Jahre lang in Moskau um seine Freilassung kämpfte, sei das die Strafe für die „Verbreitung faschistischer Musik“ gewesen. War seine Freilassung ein Erfolg dieser unermüdlichen Bittstellerin oder nur eine weitere Laune der Diktatur? Das wurde niemals bekannt. Lediglich der Grund seiner Festnahme ist konkretisiert worden: Er hatte Werke von Wagner und Strauss mit einem Schulorchester einzustudieren versucht! Faschistische Musik …?!

Dennoch gelang es dem Künstler, in Sibirien unter unsäglichen Bedingungen eigene Musik zu schreiben. Ohne Klavier, ohne Notenpapier. Er konnte seine Wärter überzeugen, keinen Text schreiben zu wollen, schließlich war er zu zehn Jahren Haft „ohne Recht auf Briefwechsel“ verurteilt, sondern lediglich Noten. Dafür erhielt er dann ungenutzte Telegramm-Formulare, ein paar karierte Blätter sowie einen Bleistift. Einen Radiergummi allerdings nicht, er fertigte diese Komposition „ohne Recht auf Fehler“.

Zu seinen Lebzeiten wurden die 24 Präludien und Fugen nie aufgeführt. Zaderatsky starb 1953 in Lwiw, dem einstigen Lemberg. Dass er im Bett eines relativ natürlichen Todes sterben konnte, überrascht angesichts seiner Vita.

„Einer der ganz Großen des 20. Jahrhunderts“

Zu den Schostakowitsch-Tagen erklingt dieses bedeutende Opus nun erstmals geschlossen als Zyklus – nach einer Voraufführung Ende vergangenen Jahres in Moskau, an der sechs Pianisten mitgewirkt hatten. In Gohrisch spielt der Pianist und Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov dieses Werk des zu Unrecht vergessenen Komponisten solistisch. Dank seiner Kontakte zu Zaderatskys 1935 geborenem Sohn konnte der ebenfalls von einem Gulag-Überlebenden stammende Künstler, der in Weimar eine Professur für Geschichte der jüdischen Musik innehat, das Notenmaterial sichten und einstudieren, das lediglich als Computerdruck existiert.

Netmsov, der sich wiederholt jüdischer Musik widmete, deren Autoren von den Nazis verfolgt wurden, stieß bei einer Arbeit über Komponisten im Gulag eher zufällig auf Zaderatsky. Sofort war er von dessen Schicksal, vor allem aber von seiner musikalischen Originalität fasziniert. „Als Künstler interessiert mich die musikalische Substanz. Wenn man es bei einem Komponisten mit totalem Aufführungsverbot zu tun hat, kommt der biografische Hintergrund hinzu. Ich würde diesem Komponisten nicht so viele Jahre meines Lebens widmen, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass wir es hier wirklich mit Musik höchster Qualität zu tun haben. Ich betrachte diesen genialen Komponisten als einen der ganz großen des 20. Jahrhunderts.“

Auch Dmitri Schostakowitsch bezog sich in seinen Präludien und Fugen auf Bach und den Quintenzirkel, freilich erst nach seinem Besuch des Leipziger Bach-Wettbewerbs 1950 und in stilistisch ganz eigener Richtung. Vsevolod Zaderatsky war somit der Erste im 20. Jahrhundert, der diese musikalische Form wieder aufgriff.

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