Der zweihundertste Geburtstag des Komponisten Robert Schumann fokussiert das Interesse neben dessen Kammermusik und Symphonien verstärkt auf dessen Oratorien, in denen das Ringen um dramatische Musik spürbar wird, welches dann spät – und leider nicht besonders glücklich – in der Oper „Genoveva“ gipfelte. Zu Anfang dieses Monats brachte Hans Jaskulsky mit den Bochumer Symphonikern Schumanns „Requiem für Mignon“ zur Aufführung, am Monatsende Ingo Metzmacher mit dem Deutschen Symphonie Orchester Berlin die „Szenen aus Goethes ‚Faust’“.
Als symphonisch überhöhter Abschluss von „Wilhelm Meister“, der Schumann wiederholt beschäftigte, ist „Requiem für Mignon“ op. 98b zugleich eine Feier Goethes und doch auch seine Infragestellung. Denn während Goethes Bildungsroman die musikalische Raumgestaltung mit verborgenen Chören zu beiden Seiten umreißt, vermeidet Schumann die Doppelchörigkeit und vertont die Exequien der Turmgesellschaft zu Mignons Beisetzung als gegenstophigen Wechselgesang mit mehrfach geteiltem gemischtem Chor und einem Solistenensemble. Darin fehlen auch nicht die Stimmen jener vier Knaben, die Mignons Sarkophag umtrauern. Schumanns Chor verlässt dann die Realebene und wird zum Sprachrohr der Gedankenwelt Mignons. Die Komposition gibt sich visionär und am Ende emphatisch im Dreischritt von Toten, hin zu Verklärten und Geläuterten. Das hat immer wieder verblüffende klangliche Momente und Schönheiten, verpufft aber doch in der Unverhältnismäßigkeit der Mittel.
Die Komposition entstand 1849, und damit in jener Periode, in der sich Schumann auch intensiv mit einer partiellen Vertonung des „Faust“ auseinandergesetzt und sie – ähnlich wie Wagner seinen „Ring“, mit dem Ende beginnend – realisiert hat. Die von 1844 bis 1853 entstandenen „Szenen aus Goethes ’Faust’“ (ohne Opuszahl) sind Schumann vergleichsweise glücklicher gelungen. Insbesondere tritt hier der in seinen Orchesterwerken (wie in denen seiner Schüler) häufig anzutreffende Mangel wenig wirkungsvoller Orchestrierung nicht zu Tage. Im Gegenteil: beim „Faust“ verwendete Schumann besondere Kunstfertigkeit darauf, die Topoi Garten, Dom, anmutige Gegend – mit Sonnenaufgang –, Palast und Bergschluchten auch durch Orchesterfarben klanglich zu charakterisieren. Die Auswahl jener Szenen, die Schumann vertont hat, beweist gleichermaßen seine nicht unkritische philosophische Auseinandersetzung mit Goethe und seine Vorliebe für Situationen, die einer musikalischen Chiffrierung bedürfen. Äußerst knapp ist die (zweite) Begegnung Fausts mit Gretchen und deren Niedergang umrissen, sehr ausgiebig hingegen die in „Faust“-Aufführungen zumeist gestrichene (und auch in Peter Steins kompletter Version unterbelichtete) Szene zwischen Ariel und dem Geisterkreis, der Faust auf blumigem Rasen umschwebt.
Musikalische Vorlieben entwickelt der Komponist für die – mit Knabenchor besetzten – Lemuren und für die Faust heimsuchenden vier grauen Weiber Mangel, Schuld und Sorge. Wie der Berliner Dramaturg Habakuk Traber belegt, verknüpft der Komponist die das differenzierende Ausgangsmaterial u. a. durch ein Motiv, das sich, von Mephisto kommend, in Gretchens Verzweiflung und später in die Sorge schlüpft, die Faust umgibt, um dann eine Metamorphose als Glücksgefühl, Buße und Themenkopf der Fuge vom „Ewig Weiblichen“ zu erfahren. Allerdings findet die mit trefflichen Miniaturen ausgebaute gewaltige Schlussszene aus dem zweiten Teil von „Faust“ durch jenen Umfang und jene Penetranz, mit der Schumann die Idee vom „Ewig-Weiblichen“ akademisch zu Tode reitet, ein all zu plattes Ende. Da kommt der zweite Teil von Mahlers Achter der Goetheschen Apotheose doch erheblich näher.
Ingo Metzmacher gelingt es, die Ebenen von Singspiel, großer Oper, Oratorium, Kirchenmusik und Symphonik fließend zu amalgieren.
Seine Interpretation betont gleichwohl die Theatralik. So wird auf Notenstehpulte für die Solisten verzichtet, und wenn sich die Sorge durchs Schlüsselloch zum reichen Faust schleicht, so geht die Sängerdarstellerin (trefflich: die Sopranistin Mojca Erdmann) aus der Gruppe der vier Bedrängnisse ab und tritt solistisch an der Front des Podiums wieder in Erscheinung.
Georg Zeppenfeld zeigt Wandlungsfähigkeit in der Multifunktion als Mephisto, Böser Geist, Pater Profundus und Bass-Solo. Die Höhepunkte aber bestreitet der Bariton Christian Geraher als Faust. Wie er – bei stets bester Diktion – stimmlich zu charakterisieren vermag und kollegial zurücknimmt, um Nebenstimmen (etwa den Knabenchor) den Vortritt lassen, das ist höchsten Lobes wert. Sein „verweile doch, du bist so schön“, ist ein Augenblick, der dem Hörer nachhaltig im Gedächtnis eingegraben bleibt.
Neben dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, das seinem Chefdirigenten in allen Nuancen folgt, ist es der von Kai-Uwe Jirka einstudierte Staats- und Domchor Berlin, (diesmal im Verbund mit dem von Stefan Parkman einstudierten Rundfunkchor Berlin), der diese Aufführung zu einem besonderen Höhepunkt werden lässt: „Hier wird’s Ereignis“!
Das Kulturradio des RBB überträgt den der Premieren-Mitschnitt am Sonntag, dem 14. März 2010, um 20:04 Uhr.