Schülerinnen und Schüler hören mit Begeisterung nicht etwa Metal, Rap, Rock, Pop et cetera, wie die meisten Altersgenossen, sondern neue komponierte Musik. Und mehr noch, sie spielen sogar selbst Werke von Boulez, Stockhausen, Rihm, Cage und anderen. Wow!
Die Gründung des „LandesJugendEnsembles für Neue Musik NRW“ verdankt sich dem Kölner Klarinettenduo Beate Zelinsky und David Smeyers. Statt begabte Schüler und Jungstudenten von 14 bis 21 Jahren erst an klassisches Repertoire heranzuführen, um dann vielleicht auch zu Neuem vorzustoßen, sollten die Jugendlichen ohne hemmende Vorurteile mit der ihnen eigenen Neugierde und Entdeckerfreude direkt frühzeitig Neue Musik kennenlernen. Die Trägerschaft vom Landesmusikrat NRW und die Mitfinanzierung durch private Sponsoren ermöglichte 2006 eine erste sechstägige Projektphase mit sechzehn jungen Musikern, die sich unter fünfzig Teilnehmern des Landeswettbewerbs „Jugend musiziert“ qualifiziert hatten. Alle waren sie begeistert von der unvertrauten Musik und dem beglückenden Gruppenerlebnis, endlich einmal Gleichgesinnte zu treffen.
Die weithin einmalige Initiative fand schnell Resonanz bei Veranstaltern und der Öffentlichkeit. Zudem wurde sie zum Vorbild für weitere Landesjugendensembles in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen. 2009 übernahm das Kölner Ensemble musikFabrik die Leitung unter dem neuen Namen „Studio musikFabrik“. Nach anfänglichen Wechseln liegt die künstlerische Leitung jetzt für drei Jahre beim Oboisten des Ensembles, Peter Veale: „Das Andocken der Jugendlichen an das Profiensemble eröffnet viele Möglichkeiten. Alles findet hier in unseren Räumen im Mediapark statt, so dass die Jugendlichen uns Profis auch bei Proben und unseren Konzerten im WDR erleben. Zudem können sie zu allen anderen Mitgliedern der musikFabrik gehen, um sich Hilfen geben und spezielle Spieltechniken zeigen zu lassen.“
Peter Veale hat neue Spieltechniken auf der Oboe mitentwickelt und in einem gemeinsamen Buch mit Claus-Steffen Mahnkopf systematisiert. Er ist ein international gefragter Spitzeninterpret, für den viele Werke geschrieben wurden. Dennoch widmet er sich passioniert der Nachwuchsarbeit: „Ich arbeite sehr gerne mit Jugendlichen. Mich begeistert ihre Offenheit und Angstfreiheit. Mit fünfzehn, sechzehn Jahren traut man sich alles zu.“ Veale schätzt an den Schülern, dass sie im Gegensatz zu manchen Studierenden an Musikhochschulen keine Vorurteile und eine unglaubliche Energie haben, die er mitnehmen und unterstützen möchte, auch wenn er darauf bestehen muss, dass etwas wirklich genau gespielt wird: „Es macht sehr viel Spaß zu sehen, wie sie lernen, auch über Jahre hinweg. Manche Teilnehmer von 2009 haben inzwischen eigene Ensembles gegründet oder machen jetzt bei Projekten der musikFabrik mit. Wunderbar!“
In drei bis vier Arbeitsphasen pro Jahr erarbeitet die sechzehnköpfige Besetzung – fast dieselbe wie die der musikFabrik – drei bis vier Konzertprogramme, die dann bei bis zu zwanzig Auftritten im In- und Ausland präsentiert werden. Da nicht immer alle Teilnehmer alle Termine wahrnehmen können, wird oft mit einer größeren Besetzung geprobt als wirklich gebraucht wird. Unterstützt wird Veale dabei jeweils von einem zweiten Musiker der musikFabrik, bevorzugt einem Streicher, etwa der Geigerin Hannah Weirich oder dem Cellisten Dirk Wietheger. Im Juli 2012 gastierte das Jugendensemble als erstes seiner Art bei den Darmstädter Ferienkursen, mit anspruchsvollen Werken von James Tenney, Earl Brown, Dieter Mack und Rebecca Saunders, die dem Ensemble prompt professionelles Niveau bescheinigte. Zudem erlebten die 23 Jugendlichen in Darmstadt viele andere Konzerte, Vorträge und Diskussionsrunden mit unermüdlichem Interesse und schließlich großem Bedauern, dass die Kurse nach zwei anstrengenden Wochen „schon“ zu Ende waren, während Dozenten und andere Teilnehmer erschöpft aufatmeten.
Für die Programme wählt Peter Veale wichtige historische Meilensteine der jüngeren Musikgeschichte, die man kennen muss. Zudem will er mit jüngeren Komponisten zusammenarbeiten. Entscheidend ist auch, dass im Ensemble nicht nur den Jugendlichen Neue Musik vermittelt wird, sondern die Jugendlichen ihrerseits als Vermittler wirken, indem sie ihre Eltern, Geschwister, Schulkameraden und Freunde in die Konzerte ziehen: „Die Jugendlichen erzählen begeistert von ihren Projekten, ,Hey, das ist coole Musik, die wir hier machen‘, sie sprechen Freunde an und erweitern den Kreis des Publikums. Und 2011 hatten wir ein halbjähriges Projekt mit mehreren Komponisten, die Schüler verschiedener Schulen dazu anhielten, für die jungen Musiker etwas zu komponieren.“
Die Kulturstiftung des Bundes fördert das „Studio“ jetzt über einen Zeitraum von vier Jahren mit der für ein Jugendensemble sagenhaft hohen Summe von dreihunderttausend Euro: „Das ermöglicht uns den Aufbau einer Infrastruktur. Wir können jetzt jemanden anstellen, der nur für das Studio musikFabrik da ist, denn die Planung und Projektkoordination mit 23 Jugendlichen, die teils drei Stunden entfernt wohnen, macht enorm viel Arbeit. Das bewegte sich bisher absolut an der Grenze des Machbaren.“ Zudem werden Instrumente angeschafft, etwa eine Bassklarinette, weil diese die Jugendlichen zumeist selbst nicht haben, die in der neuen Musik aber Standard ist und von den musikFabrikanten fast immer gebraucht wird, so dass sie nicht ausgeliehen werden kann. „Wichtiger aber ist“, unterstreicht Peter Veale, „dass wir mit unseren Projekten als Vorbilder in anderen Städten und Ländern präsent sein wollen. Wir wollen zu Nachahmung animieren. Und das braucht gewisse finanzielle Mittel.“
Nach zwei Gastspielen in den Niederlanden im Oktober unternimmt man zum Jahreswechsel eine zehntägige Südostasien-Tournee: „In Singapur, Kuala Lumpur und Bangkok werden bereits jetzt Gruppen geformt, die dann mit uns spielen. Brigitta Muntendorf komponiert ein Stück für Musiker aus Thailand, Malaisia, Singapur und uns.“ Zudem will man in den nächsten Jahren die anderen vier Jugendensembles für Neue Musik, die es in Deutschland gibt (neben den oben genannten auch eines in Rheinland-Pfalz), zu einem Festival einladen, um Kontakt und Austausch zu stiften. Was sich bislang auf Nordrhein-Westfalen beschränkte, soll fortan national und international ausstrahlen: „Wir wollen die Jugendlichen so ausbilden, dass sie selbst Neue Musik weitergeben können, dass sie Vorbildcharakter gewinnen und über Deutschland hinaus dazu animieren, Neue Musik zu machen.“ Im Gegensatz zum bestens finanzierten „Studio musikFabrik“, das sich Veranstaltern fast gratis anbieten lässt, verfügen Nachwuchsensembles wie etwa die jüngsten Kölner Gründungen „Garage“, „cras“, „gRoBA“ oder „hand werk“ nicht über annähernd vergleichbare finanzielle, personelle und strukturelle Ressourcen. Wirkt da die privilegierte Ausstattung des Jugendensembles nicht wettbewerbsverzerrend und kontraproduktiv auf den Konzert- und Festivalbetrieb? Peter Veale teilt solche Befürchtungen nicht: „Dass es diese neuen Ensembles gibt, in denen auch ehemalige Mitglieder des Jugendensembles spielen, unterstützt, glaube ich, gerade unsere Vorgehensweise. Ich denke nicht, dass wir in Konkurrenz stehen werden. Es ist Platz für alle, auch in Deutschland, wo es so viele Ensembles gibt, selbst wenn es nicht immer einfach ist zu überleben. Jedes Ensemble, das ein gutes Konzept und gute Ideen hat, kann es schaffen.“