Während Daniel Barenboim als unsichtbarer Sachwalter im halb verdeckten Orchestergraben der Berliner Staatsoper im Schillertheater für einen geradezu schwerelosen, trotz Transparenz satten Wagner-Klang sorgt, passiert in der Neuinszenierung des „Siegfried“ auf der Bühne mit großem Aufwand kaum Aussagekräftiges. Berlins neuer „Ring“ droht in der Konzeptlosigkeit von Konzeptkunst zu ersticken.
An der Mailänder Scala, mit der die im Herbst 2010 begonnene Tetralogie koproduziert wurde und wird, sind gegen Mitternacht endende Opern die Regel, hierzulande ist es jedoch ungewöhnlich, dass eine erst um 18 Uhr beginnende Aufführung durch zwei überlange Pausen (die durch extrem schwierige Umbauten entschuldigt werden) bis Dreiviertelzwölf ausgedehnt wird.
Auch im „Siegfried“ erweist sich der belgische bildende Künstler Guy Cassiers in erster Linie als ein Raumgestalter, der sich gleichwohl die Verantwortung für das Bühnenbild mit Enrico Bagnoli teilt. Über die Wirksamkeit oder Redundanz der großflächigen Videoprojektionen von Arjen Klerkx und Kurt D'Haeseleer mag man vielleicht noch streiten. Da wird der Wanderer als „Herr der Raben“ bei seinem ersten Auftreten von virtuellen Vogelschwärmen umgeben, die Hitchcock neidisch machen könnten. Bei der Wissenswette wird die Verwandlung Fafners in einen Drachen filmisch dokumentiert, und im Schlussakt wird das schon in der „Walküre“ zitierte Marmorrelief von Jef Lambeaux, „Die unendlichen Leidenschaften“, unter den vordem verfließenden Strukturen der Videoprojektionen ersichtlich.
Mimes Höhle ist eine mehrstöckige Landschaft aus Metallbehältern, darin integriert acht Flachbildschirme und mehrere Lichtbatterien. Eine davon nutzt Siegfried, der das Licht per Schalter anknipst, dann tatsächlich als Blasebalg-Hebel. Statt Amboss, gibt es zwei Klappen, hinter denen Siegfried schmiedet. Doch seine Demonstration der Schwertschneidkraft, die Siegfried zumeist den Amboss durchschlagen lässt, bleibt er an den Werktischen schuldig.
Das Fehlen von Personenregie ist eklatant. Hilflosigkeit wird insbesondere bei szenischen Zitaten deutlich, etwa wenn Erda (Anna Larsson) – wie in Chéreaus Bayreuther Jahrhundert-Inszenierung – sich aus einer Unmenge von Stoff wickelt, was hier aber nichts mit ihrem Schlaf, zu tun hat; nur dem Design gerecht, streichelt sie aus Verlegenheit ihren Schwanenflügel.
Denn Kostümbildner Tim van Steenbergen frönt weiterhin seiner Vorliebe für lange Schleppen und Waldschrate, so dass die Darsteller im „Siegfried“ vermehrt mit Tierattributen, insbesondere mit Gefieder ausgestattet sind. Alberich wirkt im Eulenkostüm hünenhafter als der Wanderer mit Adlerflügel. Wieder einmal spielt Siegfried jenen Bären, mit dem er seinen Ziehvater Mime bedroht, unter einem Umhang selbst. Blatt- und nadellos sind die aus Metall gewirkten, silbern glitzernden Baumstämme des Waldes. Unter einem zieht Siegfried eine silberne Schlange hervor und formt sich daraus das Rohr zur Nachahmung der Vogelrufe. Das „Menschenweib“, nach dem er sich sehnt, stellt sich hier auch postwendend ein, in Gestalt des Waldvogels im Abendkleid – aber nur für den Zuschauer, denn für Siegfried bleibt der Waldvogel (Rinnat Moriah) eine unsichtbare Zauberin, auf deren Wink die Baumstämme in den Schnürboden verschwinden.
Wie in Joachim Herz’ legendärer Leipziger Inszenierung, treten ab dem Drachenkampf zusätzliche Figuren ins Spiel. Hier sind es fünf Tänzer, die zunächst unter einem schlangengefleckten Tuch und rund um Fafner (Mikhail Petrenko) agieren. Nach dessen Tod gesellen sie sich zu Siegfried, formen mit fünf Schwertern ein Pentagramm und andere Symbole (Choreographie: Sidi Larbi Cherkaoui). Siegfrieds „Schwertstreich“ gegen Mime, von dem er im dritten Aufzug dem Wanderer berichtet, findet nicht statt, denn Mime stürzt sich selbst in Siegfrieds ausgestreckt gehaltene Waffe. War am Ende der „Walküre“ die Brünnhilde auf einem Podest hochgefahren worden, so wird am Ende des zweiten Aufzugs Siegfried auf einem hydraulischen Siegerpodest gefeiert.
Während des Zwischenspiels vor dem Schlussbild senkt sich eine schwarze Courtine, aber nach deren Öffnen erfolgt dann doch sichtbar der Umbau: wackelnd wird ein praktikabler Hügel nach vorne gefahren, dessen barocke, reich mit Stoffbahnen behangene Gestaltung eher an den Felsen Ariadnes als an den der Walküren denken lässt. Hier, im Zusammentreffen der in ihren Partien vielfältig erfahrenen Darsteller, kommt es dann endlich zu Spielvorgängen zwischen den Protagonisten.
Leider scheint Iréne Theorin stimmlich ihren Zenit bereits überschritten zu haben, denn ihre Brünnhilde geriet am Premierenabend flackernd, obendrein schrill in den Spitzentönen. Der zweite Tag des Bühnenfestspiels steht und fällt mit der Besetzung des Siegfried, und da ist Lance Ryan keine schlechte Wahl: hat sich der Hörer erst einmal an dessen gequetschte Stimmgebung mit amerikanischem Akzent gewöhnt, so kann er sich am Durchhaltevermögen und an der engagierten Darstellung des schlanken und schlaksigen jungen Draufgängers erfreuen.
Peter Bronder als Mime schafft dazu einen tenoral fundierten Kontrast, den er am Ende des ersten Aufzugs, gleich einer Fledermaus an den Beinen hängend, auskostet. Als dessen Bruder Alberich hatte Martin Kränzle offenbar einen schlechten Tag, mit Rhythmus- und Textunsicherheiten. Ob Juha Uusitalo gut beraten war, kurz nach Genesung von schwerer Krankheit, den Wanderer zu singen, ist fraglich.
Daniel Barenboim hilft ihm durch extreme Rücknahme des Orchesters. Und er rückt die Szene Wanderer-Siegfried durch die gebotene Leichtigkeit in die Nähe der Schusterstuben-Unterweisung des Stolzing durch Sachs, macht musikalische Verwandtschaften im Versuch der Unterweisung des Jüngeren durch den Älteren deutlich. Hatte Barenboim die ersten beiden Vorspiele, jeweils bei geschlossenem Vorhang, zu Höhepunkten einer Vorahnung auf neue Musik gestaltet, so lässt er in der Schlussszene geradezu kammermusikalisch musizieren: Er hebt die inhaltliche Parallele zum „Siegfried-Idyll“ hervor und lässt erneut Verwandtschaften zur unmittelbar zuvor erfolgten Komposition der „Meistersinger“ aufscheinen.
Beim Schlussapplaus ist das Orchester auf der Bühne. Obgleich am Tag der Deutschen Einheit durchaus nicht Alles glänzte, und nicht nur der Solohornist mit Ansatzschwierigkeiten zu kämpfen hatte, erhält es dankbaren Applaus, ebenso die Sängerdarsteller, während sich für das Regieteam Unmutsäußerungen in den kurzen, vormitternächtlichen Applaus mischten.
Erstmals im neuen „Ring“ war die Berliner Erstaufführung kein Remake, sondern – als Vorläufer für Aufführungen am Teatro alla Scala di Milano – eine echte Premiere.
Weitere Aufführungen: 6., 10. Oktober 2012, 27. März , 7., 18. April 2013.