2001 war Catherine Rückwardt angetreten - als erste weibliche Generalsmusikdirektorin in Mainz, und als eine der ganz wenigen in Deutschland überhaupt. Sie ging ans Werk mit Können, Charisma und konzeptioneller Befähigung; es herrschte Aufbruchsstimmung. Kinder- und Jugendarbeit gewannen erheblich an Bedeutung, aber auch die regulären Sinfoniekonzerte im Staatstheater bewiesen ungewöhnliches programmatisches Profil.
Dann kam 2003 der Rückschlag. Im Zuge der Reformplänen des damaligen rheinland-pfälzischen Kultusministers Jürgen Zöllner sollte das Philharmonische Orchester des Staatstheaters mit der Staatsphilharmonie Ludwigshafen fusioniert werden. Existenzsorgen legten sich lähmend über die Arbeit. Die Musiker kämpften tapfer dagegen an und wurden belohnt durch unerwartete Resonanz. Konzertpublikum und Öffentlichkeit in den betroffenen Regionen Ludwigshafen, Mainz und Koblenz liefen Sturm gegen die Orchesterreform. Etwa 100.000 Unterschriften wurden landesweit gesammelt. Der Ministerium ließ sich auf einen Kompromiss ein: Keine Fusion, nur die Ausgliederung des Mainzer Orchesters aus dem Staatstheater, Stellenreduzierungen an allen drei Standorten und eine vertraglich verpflichtende Kooperation. Seitdem gibt es immer wieder Besetzungsschwierigkeiten. „Wir müssen kleinere Brötchen backen“, sagt Catherine Rückwardt.
Dennoch – von Depression ist nichts mehr zu spüren. Die Generalmusikdirektorin hat nicht nur das Motto wieder hervorgeholt, mit dem sie 2001 angetreten ist, sie hat auch tatkräftig daran gearbeitet. Es ist ein wichtiges Signal: Der „Mainzer Klang“ ist wieder da. Der Anspruch, dass jede Stimme hörbar werden soll, wird zunehmend eingelöst – auch bei den Operndiensten, die das Philharmonische Staatsorchester nach wie vor am Staatstheater leistet. Nicht nur die Premiere von Purcells „Dido und Äneas“, sondern auch eine Repertoirevorstellung von Mozarts „Hochzeit des Figaro“ im September beeindruckte durch eine außerordentliche Biegsamkeit und Transparenz des Klanges, wie man sie selten hört.
In ihren Überlegungen zum Thema „Romantik“, dem Schwerpunkt der aktuellen Konzertsaison, verbindet Catherine Rückwardt die 200 Jahre alten Vorstellungen der Frühromantik von der herausragenden Bedeutung der Musik mit den Erkenntnissen der modernen Gehirnforschung. Die Musik der Romantik im Konzert zu erleben, bedeute: „um 20 Uhr vielleicht mit Kummer, Schwermut, Zweifeln oder Ungewissheit beladen ins Konzert zu gehen und nach der Aufführung ein kleines Stück geheilt zu sein. Der von den Krisen unserer Gegenwart überwältigte Verstand nutzt die Brücke der Musik, unser Unterbewusstsein kann Denkprozesse neu ordnen, neue Lösungen und Ansätze entdecken lassen.“
Die Romantik hat viele Facetten: Die Saisoneröffnung widmete sich den musikhistorischen Anfängen und brachte Poesie und Esprit der Frühromantik beredt zur Geltung: Auf Fanny Hensels „Ouvertüre C-Dur“ folgten das 1. Klavierkonzert g-moll ihres Bruders Felix Mendelssohn Bartholdy (mit dem wachen Pianisten Peter Rösel am Flügel) und die Sinfonie Nr. 3 D-Dur von Franz Schubert. Das zweite Konzert fasste Zeitraum und Begriff wesentlich weiter und widmete sich auf eindrucksvolle Weise zwei sehr unterschiedlichen Komponisten römisch-katholischer Herkunft. Auf Oliver Messiaens mystisch aufgeladenen Liebeslieder-Zyklus „Poèmes pour Mi“ von 1937 folgte Anton Bruckners „Romantische Sinfonie“, die Gastdirigent Zsolt Hamar aus dem ungarischen Pécs als kompositorisches Wagnis an den Rand des Verstummens rückte.
Der dritte Abend, wiederum unter GMD Rückwardt, interpretierte Romantik eher im Sinne der musikalischen Hingabe an einen inneren Bewusstseinsstrom. Auf Franz Schrekers „Nachtstück“ aus der Oper „Der ferne Klang“ folgte das Violinkonzert des finnischen Zeitgenossen Magnus Lindberg mit dem jungen Geiger Jack Liebeck als Solisten, indem das nahtlose Ineinanderwirken vom Geige und Orchester nachhaltig beeindruckte. Nach der Pause folgte Robert Schumanns „Rheinische Sinfonie“, die allerdings den ästhetischen Ansatz verlagert. Die Intimität des Ausdrucks tritt zurück gegen die sinfonische Tradition der öffentlichen Anrede. Etwas unentschlossen schwankte die Interpretation zwischen spätromantischer Hingabe ans Gefühl und hochromantischer Wachheit, zwischen Sich-Treiben-Lassen und Zupacken.
Nicht jede ambitionierte Planung geht auf. In der letzten Saison überforderte ein Abend aus lauter fragmentarischen Werken – auch dies bereits eigentlich ein romantisches Programm – das Publikum im Einstieg. Gnadenlos husteten die Zuhörer in Luciano Berios Bearbeitung des unvollendeten „Contrapunctus XIX“aus Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“ hinein und brachten damit auch die Musiker aus der Ruhe. Man beobachtet es auch andernorts: Das innere Eintreffen im Konzertsaal hinkt dem äußerlichen Eintreffen im Konzertsaal hinterher, und selbst die einst Ehrfurcht gebietende Aura der „Kunst der Fuge“ sorgt nicht mehr automatisch für Stille.
Da erschien ein Angebot des Darmstädter Komponisten Alois Bröder wie gerufen. Die Idee seiner 18 „Signale für Orchester“, eines Auftragswerks für das Philharmonische Staatsorchester Mainz, war so einfach wie genial. Vor Beginn des Konzerts und nach der Pause sollte das Orchester bei geöffneten Saaltüren die Zuhörer mit einem Signal in den Zuschauerraum locken und das Stück dann noch einmal vor versammeltem Publikum wiederholen – sozusagen im gleitenden Übergang vom Lockruf zur Einstimmung. Je zwei „Signale“ für ein Konzert sind paarweise verbunden und aufeinander bezogen. Die kompositorische Gratwanderung zwischen reiner Funktionalität und künstlerischem Anspruch hat Bröder, nach dem bisher uraufgeführten Drittel zu urteilen, überzeugend bestanden. Ganz im Sinne des Saisonmottos gelingt es ihm, das Signalhafte mit dem Poetischen zu verbinden. Jeder weiß: Danach geht es los. Wer will, kann und darf vorher schon zuhören. Dazu lädt allein schon die Korrespondenz zwischen den beiden Signalen ein.
Die passende Zuordnung bleibt eine Herausforderung für die Programmplanung, denn die „18 Signale“ wurden nicht speziell für die aktuelle Mainzer Saison komponiert, sondern sind vielseitig verwendbar. Die Mainzer Dispositionen bedingten in einem Fall eine nachträgliche Justierung durch den Komponisten. Für das kleiner besetzte 8. Sinfoniekonzert musste Bröder die Orchesterbesetzung reduzieren. Auch akustisch klappte nicht alles wie geplant: Damit im gut abgeschirmten Foyer des Mainzer Großen Hauses überhaupt etwas zu hören ist, müssen die „Signale“ bei der Generalprobe aufgenommen und dann an Stelle der Pausengongs über Lautsprecher eingespielt werden. Das wirkt etwas undeutlich im Klang und weniger stimmungsvoll als intendiert, beschreibt aber immer noch die Spanne zwischen äußerem und innerem Eintreffen. Dass man mit diesem Problem schöpferisch umgehen kann, ist selbst ein wichtiges Signal.
Ein drittes Signal aus Mainz ist bedauerlich: Catherine Rückwardt hat angekündigt, dass sie ihren Vertrag nicht über das Jahr 2011 hinaus verlängern will. Zehn Jahre, ohnehin „,mehr als üblich“ seien genug, meint sie, und das Orchester sei „auf einem guten Weg“. Letzteres ist nicht zu überhören. Dennoch: Fünf weitere ertragreiche Jahre gemeinsam auf dem eingeschlagenen Weg weiterzugehen, hätte man dem Ensemble und seiner GMD zugetraut und gewünscht.