Gustav Mahler in Italien – dieses Kapitel im Leben des vor 100 Jahren verstorbenen Komponisten und Dirigenten mag nicht die Bedeutung haben, die das Land, wo die Zitronen blühen, einst für Goethe hatte oder die sie für den früh aus Deutschland in die Weinberge bei Rom geflüchteten Hans Werner Henze bis heute besitzt. Auch der große alte Herr und ungebrochen aktive Tonsetzer wohnte jetzt der Saisoneröffnung des Orchesters der Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom bei, zu der Antonio Pappano die „Sinfonie der Tausend“ dirigierte, um so den Abschluss seines bald vollendeten Mahler-Zyklus einzuläuten. Interessante Erkenntnisse in Sachen „Mahler und Italien“ konnte man dabei zuhauf gewinnen.
Gemeinhin bekannt ist Mahlers Malaise bei seiner Ankunft anno 1907 in Rom: Der Maestro, seinerzeit ein dirigierender Weltstar, kommt für sein erstes Konzert in die Ewige Stadt. Auf der Reise dorthin geht sein Gepäck verloren. Für seinen Auftritt im Beisein von Königin Margherita muss Mahler sich ein hastig umgeschneidertes Outfit beim Besitzer des Hotels borgen, in dem er abgestiegen ist.
Seine Auftritte werden indes zum Triumph. Er dirigiert Beethovens „Eroica“, Tschaikowskys „Pathétique“, Ausschnitte aus Berlioz‘ „La Damnation de Faust“, Wagners „Siegfried Idyll“ sowie Höhepunkte aus „Tristan und Isolde“, „Die Meistersinger von Nürnberg“ und „Tannhäuser“. Als kurzfristige Erweiterung fügt der Maestro noch das Adagietto aus seiner „Sinfonie Nr. 5“ ins Programm ein, das später als Filmmusik in Viscontis „Tod in Venedig“ die weltweite Renaissance seiner Musik entscheidend befördern sollte. Mit spontanen Standing Ovations bedankten sich die Römer seinerzeit bei einem sichtlich bewegten Mahler, der 1910, nur ein Jahr vor seinem Tod, eine Wiedereinladung nach Rom annimmt.
Damit war eine bis heute ungebrochene Affinität der Italiener gerade auch für den Komponisten Gustav Mahler in Gang gesetzt. Das mag aus deutscher Sicht erstaunen, werden hierzulande immer noch allzu gern die Vorurteile eines vergrübelten, der Welt abhanden gekommenen Komponisten bemüht.
In Italien sieht, hört und spielt man Mahler anders. Wo Bruno Walter, Willem Mengelberg, Giuseppe Sinopoli sowie der junge Leonard Bernstein mit dem Orchester der Accademia Nazionale di Santa Cecilia die Auseinandersetzung mit dem sinfonischen Schaffen Gustav Mahlers nach dessen Tod lebendig hielten und kontinuierlich pflegten, ist offenbar eine nachhaltig wirkende Nähe sowohl der Musiker als auch des Publikums zum Komponisten des (aus ihrer Sicht besehen) Nordens entstanden. Die Gefühlsverwandtschaft der Italiener erklärt der jetzige Musikdirektor des Traditionsorchesters schmunzelnd mit den neurotischen Neigungen des Volks, dem der in London geborene und in den USA aufgewachsene und ausgebildete Maestro ja selbst entstammt.
Wie Pappano nun gerade in der „Achten“ Mahler als geradezu sanguinischen Melodiker zu feiern weiß, beweist zudem, wie stark die Einflüsse namentlich der italienischen Oper auf das Schaffen des Komponisten tatsächlich waren. Als Energiebündel Pappano nach einem die krassen Extreme ausleuchtenden Dirigat der Sinfonie in seinem Künstlerzimmer seinen Getreuen am Flügel nochmal ein paar Stellen vorspielt, weist er auf kaum entdeckte Zitate in der Partitur hin. Wer würde schon eine tonartengenau übernommene Phrase aus Puccinis „La Bohème“ in Mahlers Vertonung des Pfingst-Hymnus und Faust-Textes erwarten?
Pappano ist, wie einst Mahler selbst, eben entscheidend durch die Oper geprägt. Und er liest das Stück mit den Augen eines leidenschaftlichen musiktheatralischen Stürmers und Drängers, der bei insgesamt flotten Tempi dennoch die vielen berückend schönen Stellen des Stücks genüsslich ausmusiziert. Das „Ewig-Weibliche“, das der wunderbar flexible Chor von Santa Cecilia, verstärkt durch den China National Chorus, beschwört, es verlockt uns in dieser spannungsberstenden Aufführung mit einer geradezu diesseitigen Erotik.
Von der Transzendenz, Sublimierung und religiösen Weihe ist da weit weniger zu hören, wenngleich Ailish Tynan ihren Ausruf der Mater Glorioso „Hebe dich zu höheren Sphären“ gleichsam aus dem Himmel des durch füllige Rundungen geprägten Auditorium Parco della Musica kommend mit wahrem Engelsopran intoniert. Aus dem fein abgemischten und nie übermächtig auftrumpfenden Solistenensemble ragen zudem der baritonbalsamische Christopher Maltman als Pater Ecstaticus und Sara Mingardo als Mulier Samaritana mit samtiger Altstimme heraus.
Pappano aber, von Orchester und Publikum gleichermaßen geliebt, demonstriert mit seiner triumphalen „Sinfonie der Tausend“, welche Wirkungsmacht Mahler in Italien bis heute hat. Rom feiert Mahler. Mit welcher Inbrunst, ist auch auf der soeben bei EMI erschienen CD-Einspielung der „Sechsten“ nachzuhören.