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Kammermusik in Gohrisch mit Gidon Kremer, Dzeraldas Bidva, Daniil Grishin, Giedre Dirvanauskaite und Igor Levit. Foto: Matthias Creutziger
Kammermusik in Gohrisch mit Gidon Kremer, Dzeraldas Bidva, Daniil Grishin, Giedre Dirvanauskaite und Igor Levit. Foto: Matthias Creutziger
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Sinnstiftende Weitung des Programmhorizonts: die 3. Schostakowitsch-Tage in Gohrisch

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Internationale Schostakowitsch Tage zum Dritten: Gohrisch mausert sich zum anerkannten Festspielort, ist eine gefragte Adresse mit absolutem Alleinstellungsmerkmal, bietet künstlerische Qualität und inzwischen weit mehr als „nur“ Schostakowitsch.

In ihrem dritten Jahrgang haben sich die Internationalen Schostakowitsch Tage Gohrisch einmal mehr als wahrhaft weltoffenes Musikfest der Moderne etabliert. Zum Start vor zwei Jahren überwog noch das Bewusstsein des eingegangenen Risikos, voriges Jahr galt es, selbstbewusst Farbe zu bekennen und hinter einmal erreichtem Niveau nicht zurückzustecken. Inzwischen ist das gewagte Unterfangen schon Tradition geworden, die niemand mehr missen will. Der in der Sächsischen Schweiz gelegene Kurort Gohrisch gilt als Treffpunkt einer weitreichenden Schostakowitsch-Gemeinde. Und kann es sich erlauben, wie am letzten September-Wochenende geschehen, das Gedenken an den 1975 gestorbenen Komponisten des Jahrgangs 1906 mit der Musik von Zeitgenossen und Nachgeborenen zu würzen.

Unaufdringlicher Kulturtourismus

Zuerst war da der Blick zurück, um an Schostakowitschs ersten Besuch im einstigen Gästehaus des DDR-Ministerrats zu erinnern. Er sollte dort 1960 die Filmmusik zu „Fünf Tage, Fünf Nächte“ komponieren, schrieb aber das 8. Streichquartett c-Moll op. 110. Ein persönliches Bekenntnis als einzige Komposition, die außerhalb seiner Heimat entstand. Aus dem Gedenken daran ist längst ein energischer Griff in die Zukunft geworden. Das Programm wies größere Vielfalt und mehr Moderne auf, sowohl bei den Interpreten als auch im Publikum fand sich eine nochmals gewachsene Internationalität; all dies spricht eine sehr deutliche Sprache. Was dazu führt, dass während der Schostakowitsch-Tage auf den Straßen von Gohrisch nebst allerlei deutschen Dialekten inzwischen viel Englisch, Französisch und Russisch zu hören war, und zwar nicht nur wegen der ausführenden Gäste, sondern auch wegen der an einem solchen Solitär in der Festspiellandschaft interessierten Besucher von ganz nah und sehr fern. Einige der Konzerte waren schon vorab ausverkauft, zahlreiche Herbergen im Ort und in der Nachbarschaft ausgebucht. Wie schön, wenn Kulturtourismus so unaufdringlich nonchalant funktioniert – ein gutes Produkt, Unverwechselbarkeit (in diesem Fall: Einmaligkeit), der Anspruch hoher Qualität und trotz gewiss engem Etat ein gewieftes Marketing; schon setzt ein Effekt ein, der auf die Macher motivierend und für die Anhänger stimulierend wirkt.

Zwar wurden an den zweieinhalb Tagen insgesamt nur vier Konzerte geboten, was sich auf den ersten Blick recht überschaubar anhört. Doch diese vier Konzerte im wieder eigens zu diesem Zweck errichteten Konzertzelt (schon längst hätten Gemeinde, Region und speziell dieses Festival eine adäquate feste Spielstätte verdient) wurden von Mitgliedern der Sächsischen Staatskapelle und der 1997 vom Geiger Gidon Kremer gegründeten Kremerata Baltika sowie von namhaften Solisten ausgeführt. Und zusätzlich zu diesen Konzerten gab es sinnvolle Einführungen, fundierte Vorträge, eine Film-Matinee sowie mehrere mit großem Interesse angenommene Führungen durch Gohrisch, um den historischen Geist dieses Ortes wieder wachzurufen.

Mieczyslaw Weinberg als Programmschwerpunkt

Die Programmgestaltung war von enormer Akribie und Kenntnisreichtum geprägt. Dass dennoch ausgerechnet zum Auftakt dieses kleinen, aber feinen Musikfestes kein Werk jenes Komponisten erklang, dessen Namen es trägt, schien zumindest fragwürdig. Die ansonsten sehr konsequente Weitung, diesmal recht verschiedene Handschriften zuzulassen, war einerseits mutig, andererseits so stringent wie legitim. Denn alle hier erklungene Musik bewegte sich in einem engen Bezug zum Schaffen von Dmitri Schostakowitsch. Die Weitung war also sinnstiftend notwendig, um seine Musik in ihrem Umfeld und mit deren Auswirkungen zu begreifen. Ein Schwerpunkt war dem engen Freund und Weggefährten Mieczyslaw Weinberg gewidmet (1919–1996), für den sich Schostakowitsch mehrfach sehr stark gemacht hatte. Als deutsche Erstaufführung erklang das 3. Streichquartett dieses lange verkannten Musikers, dem auch ein brillanter Vortrag von Michelle Assay und David Fanning gewidmet wurde. Biografische Hintergründe und der Vergleich mit Weinbergs Streichtrio op. 48 schärften genauestes Hinhören. Zumal das von Mitgliedern der Sächsischen Staatskapelle rekrutierte Dresdner Streichquartett und die Musiker der Kremerata Baltika unterschiedliches Herangehen an Weinbergs Kammermusik offenbarten – hier der Schwerpunkt eher auf technische Präzision, da ein mehr huldigender Interpretationsgestus. Ganz aus dem Geist der Musik heraus nahmen sich Mikhail Simonyan (Violine), Isang Enders (Violoncello) und Igor Levit (Piano) Schostakowitschs 1. Klaviertrio an und brachten mit der Sopranistin Evelina Dobraceva in den Sieben Romanzen nach Alexander-Blok-Gedichten erstmals den Gesang ins Gohrischer Festival, an dessen erstem Abend auch Schostakowitschs seiner Frau Irina gewidmetes 9. Streichquartett von 1964 erklang.

Die große Überraschung der diesjährigen Schostakowitsch-Tage war wohl die samstägliche Klaviermatinee von Igor Levit, der bereits in den Vorjahren mit seiner ausgereiften Virtuosität überzeugt hatte. Diesmal toppte er in Frederik Rzewskis einst als unspielbar geltendem Werk „The People United Will Never Be Defeated“ – 36 Variationen über einen chilenischen Revolutionszyklus mit Anleihen bei Eislers „Solidaritätslied“ und dem italienischen „Bandiera rossa“. Unglaublich souverän, nie prätentiös, stets dem Wert der Musik verpflichtet.

Gidon Kremers Vortragskünste

Der zweite Kammerabend hingegen, in dem Levit ebenso überzeugend erstmals mit Kremer und Kremerata-Kollegen Alfred Schnittkes Klavierquintett musizierte, hinterließ bei großen Teilen des Publikums zumindest Irritationen, wenn nicht Verstörung. Das lag wohl weniger an der Stückauswahl – neben Schnittke und Weinberg gab es die leicht zu verkennende Sonate „Rejoice!“ von Sofia Gubaidulina, der man wohl nur gerecht wird, indem ihre tieftraurige Ernsthaftigkeit anerkannt wird – als an den Vortragskünsten Gidon Kremers selbst. Da war auch das sphärische Duo für Viola und Violoncello von Victor Kissine – ausgeführt von Daniil Grishin und Giedre Dirvanauskaite – keine Rettung.

Die Kritik am geigenden Kremer setzte sich im Abschlusskonzert fort, einem sogenannten Aufführungsabend der Staatskapelle, in dem der Violinist Alfred Schnittkes recht technizistisches Präludium in memoriam Dmitri Schostakowitsch solistisch präsentierte und auch im Concertino für Violine und Streichorchester op. 42 von Mieczyslaw Weinberg nicht so recht überzeugte. Mit Michail Jurowski wurde das Orchester hier von einem Sachwalter Schostakowitschs geleitet, der – ebenso wie Gidon Kremer – noch sehr persönliche Reminiszenzen zum Namensgeber der Schostakowitsch-Tage vorweisen kann. Freilich brüstet sich niemand damit, Jurowski versteht sich wohl eher als Nachlassverwalter und ging dermaßen wertschätzend sowohl an Weinbergs Concertino und dessen schwermutsvoll-folkloristisch angehauchter Rhapsodie über Moldawische Themen als auch an Schostakowitschs Zwei Stücke für Streichoktett op. 11 heran. Den Schlussstein setzte der 1945 in Moskau geborene und seit gut zwanzig Jahren in Deutschland lebende Dirigent mit dem 1963 unter Kurt Sanderling in Berlin uraufgeführten Zyklus „Aus jüdischer Volkspoesie“. Einmal mehr also Vokalmusik, diesmal von der Sächsischen Staatskapelle gemeinsam mit dem russischen Gesangstriumvirat Evelina Dobraceva (Sopran), Marina Prudenskaya (Alt) und Vsevolod Grivnov (Tenor) voller Akkuratesse und Emotionalität ausgeführt.

Symbolisches Frackgeld

Was wäre Gohrisch ohne Jurowski und die Kapelle? Von Anfang an sind sie mit dabei, haben sich längst als Experten und Hüter des Erbes von Schostakowitsch erwiesen, und tun dies jedesmal – ebenso wie die sonstigen Gäste – zu einem symbolischen Frackgeld anstelle von Honorar.

Den dramaturgischen Faden legten bei den diesjährigen Schostakowitsch-Tagen die unterschiedlichen Bezüge, die sich aus Schostakowitschs Schaffen ergaben. Künstlerfreundschaften und Handreichungen unter diktatorischen Bedingungen, aber auch Musikzitate, Fortentwicklungen und das (musikalische) Aufbegehren gegen mächtige Willkür. Dass sich viele Berührungspunkte mit jüdischen Autoren ergaben, liegt in der Historie begründet und wurde überaus deutlich im 1996 entstandenen Film „Le Violon de Rothschild“ (Rothschilds Geige) von Edgardo Cozarinsky. Den gleichnamigen Tschechow-Stoff machte Schostakowitschs früh im Krieg gefallener Schüler Benjamin Fleischmann (1913–1941) zur Oper, der Meister orchestrierte anschließend das einaktige Werk und fand statt offener Ohren erstmal nur Ablehnung dafür.

Dass ganz im Gegensatz dazu ein solches Spezialfestival wie die Internationalen Schostakowitsch Tage Gohrisch heute zuhauf Gehör finden, ist der beste Beweis für ein allen Unkenrufen zum Trotz vorhandenes Interesse an Anspruch und Inhalt.

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