Das Institut für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt veranstaltete vom 26. bis 29. März 2008 seine 62. Frühjahrstagung. Diese traditionsreiche Veranstaltung bietet jährlich Komponisten, Musikern, Musikpädagogen, Musikwissenschaftlern und Philosophen ein Forum für eine vielseitige Auseinandersetzung mit Neuer Musik – in diesem Jahr unter dem Gesichtspunkt: „Spannungsfelder. Neue Musik im Kontext von Technik, Natur und Wissenschaft“. Den Auftakt zur Tagung bildete die „Stadtmusik“ (Bespielung des öffentlichen Raums) der Jugend-Musik-Werkstatt Kaiserslautern und des Ensembles Darmstädter Improvisierte Musik (DIM) sowie der Festakt samt Festkonzert zum 60-jährigen Bestehen des INMM.
Drei Tage lang Neue Musik, Spannungen, Natur, Wissenschaft, Technik – welche Erkenntnisse ermöglicht solch eine Tagung? Obwohl in der gesamten Musikgeschichte mathematische Proportionen, instrumentale Technik, Imitation von Naturlauten und ähnliches immer wieder eine Rolle spielten, ist gerade für die Neue Musik, bedingt durch die rasanten technischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts (Reproduzierbarkeit durch Aufnahmetechnik, elektronisches Instrumentarium, Computerprogramme als Kompositionswerkzeug et cetera), der Kontext von Technik, Natur und Wissenschaft von besonderer Bedeutung.
Das Verhältnis von Technik, Natur und Wissenschaft zur beziehungsweise in der Neuen Musik prägt sich unterschiedlich aus, als symbiotisches Miteinander, als konkurrierendes Gegeneinander, als sich ausschließende Parallelwelten, als Vorherrschaft eines Elements über die anderen. Die Spannungsfelder, von denen im Tagungsthema die Rede war, entstehen für den Komponisten, den Instrumentalisten, den Hörer im Umgang mit diesem Verhältnis: Wie viel Einfluss nimmt der Komponist auf die verwendete Technik? Was von den Strukturen, was von der Natur ist hörbar? Wie frei, wie vorherbestimmt, wie (un-)konkret ist der musikalische Verlauf?
Viele der diesjährigen Vorträge gaben einen Einblick in „Kompositionswerkstätten“, stellten Kompositionsprozesse vor und beantworteten diese Fragen auf unterschiedliche Weise. Peter Hoffmanns Erläuterungen zu Iannis Xenakis’ Programm GENDYN gaben Beispiel für eine autonom funktionierende und Stücke generierende Technik. Die Computersimulationen, die Gerhard E. Winkler als Grundlage für Kompositionen verwendet, sind dagegen dynamische Systeme, die offen gegenüber der Umgebung sind und nicht technisch starr agieren. Dem gegenüber wirken Martin Riches’ Apparaturen (zum Beispiel flute machine, talking machine, thinking machine) als rein mechanische Klangerzeuger kurios und altertümlich. Die komplexe Mechanik übt an sich eine besondere Faszination aus, die zum Beispiel vom Komponisten Roland Pfrengle in talking machine als Vermenschlichung der Maschine eingesetzt wird. Oliver Schneller veranschaulichte die Möglichkeiten des Umgangs mit akustischen Modellen in der spektralen Musik und die unterschiedlichen Grade von sowohl kompositionstechnischer als auch hörbarer Nähe und Differenz zum Modell (Nachahmung, Analogienbildung, Ableitung abstrakter Strukturprinzipien).
Harry Lehmanns Warnung vor einer zunehmenden technischen Virtuosität und Banalität, vor einer Technik als Selbstläufer, mag vielleicht im großen Musikbetrieb seine Berechtigung haben, bei den in Darmstadt anwesenden Komponisten zeugte der bewusste und feinfühlige Umgang mit Technik und Wissenschaft jedoch eher vom Gegenteil. Orm Finnendahls Ausführungen zu seinem Werk „Versatzstücke für Klavier und 6-Kanal Zuspielung“ legten die Strukturen bis auf den Grund offen – ein simples graphisches Bild aus Punkten und Strichen – und zeigten die technische Entstehung des Stücks durch Kopien, Überlagerungen und Variation dieses Bildes auf. Dem Vorwurf der Technik als Selbstläufer setzt Finnendahl die Verantwortung und das Gespür des Komponisten für die richtige Auswahl entgegen.
Dem Aspekt Natur wurde auf der Tagung vergleichsweise wenig Platz eingeräumt. Volker Staub stellte eine Klanginstallation von Leif Brush vor, in der mikroskopisch feine Klänge des Winds verstärkt hörbar gemacht und bearbeitet werden und per Internet auf der ganzen Welt als „Echtzeit-Energiebewegung“ der Erde abzurufen sind. Ganz anders als in dieser aufwändigen Verbindung von Natur und Technik geht Stephan Froleyks mit den natürlichen Gegebenheiten und klanglichen Eigenschaften von Material um und baut sich eigene Instrumente (zum Beispiel Zinkwanne mit Saiten, Messertisch, geschweifte Tuba), die er zunächst improvisatorisch erkundet, um sie dann entsprechend ihrer spezifischen Qualitäten kompositorisch einzusetzen.
Einige dieser Instrumente waren dann auch im Konzert zu hören, das sich, wie auch die übrigen abendlichen Konzerte, als wohltuende Anbindung an die musikalische Realität erwies – sie ließen Zeit für die Wahrnehmung der Musik, die manch überraschende Wendung in heiß diskutierte Themen bringen konnte. In diesem Zusammenhang erschien auch Wolfgang Lessings Vortrag über die Diskrepanz zwischen den Erkenntnissen der Hirnforschung, die von der Ausbildung eines Strukturnetzes im Gehirn ausgehen, das alle Reize nach vertrauten und vorhandenen Mustern strukturiert und einordnet, sehr aufschlussreich in Bezug auf das Erleben des Neuen in der Neuen Musik. Die Begegnung mit dem eigenen Wahrnehmungsvorgang, die gerade bei unbekannter, neuer Musik stattfindet, besitzt unabhängig vom strukturellen „Verstehen“ der Musik einen Eigenwert. Dieser Eigenwert der Wahrnehmung war auch in der Vorführung wissenschaftlicher Filme, die musikalisch unterlegt wurden, zu erfahren. Ich nehme an, die wenigsten konnten einer martensitischen Umwandlung in Kupferlegierungen oder Tantalhydrid Phasenübergängen mit dem Verstand folgen – die Bilder und Fügungen zusammen mit der Musik waren dennoch eindrücklich.