Vorsicht, diesmal wird’s ein bisserl ernster hier: Vor ein paar Tagen ertappte ich bei einem Spaziergang meinen elfjährigen Enkel dabei, wie er – glaubte ich – Steinchen in den Wald warf. Glaubte ich, denn bei näherem Hinsehen stellte ich fest, dass er aus seinen prall gefüllten Hosentaschen Ein- und Zwei-Cent-Münzen kramte und, so weit es ging, wegwarf. Gutgläubig wie ich nun mal bin, fragte ich ihn, ob er Geld säe, damit es ordentlich wachse (nicht ohne gleich eine Minipredigt anzuschließen, dass dies ein ziemlich hoffnungsloser Weg zum Reichtum sei). „So ein Schmarrn, Opa – glaubst, ich bin doof?“, antwortete er, nicht ohne mit dem Finger an die Stirn zu tippen. „Ich hab nur mein Sparschwein ausgemistet, damit mehr Platz für Silbergeld und Scheine bleibt.“ „In Dänemark“, fügte er weise hinzu, „ist dieser Kupferschrott schon gar nix mehr wert. Außerdem könntest du mein Handy mal für Apple-Pay freischalten, du hast doch eine Kreditkarte.“ Mir lag zwar eine Moralpredigt samt Schimpfkanonade auf der Zunge. Im Wissen, noch nie ein guter Pädagoge gewesen zu sein, entschloss ich mich zu einer Art Moratorium. Ich bot meinem Enkel an, mir den „Kupferschrott“ auszuhändigen mit der Zusage, ihn in Euro-Münzen (selbstverständlich samt Aufrundung) umzutauschen.
Dabei fühlte ich mich reichlich inkonsequent und feige. Wie sollte ich dem Knaben klar machen, dass der herstellerische Wert einer Cent-Münze vermutlich höher sei als sein kapitaler? Und dies in einer Zeit gespaltener gesellschaftlicher Realität: Die einerseits den Satz „Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert“ längst auf dem Müllhaufen der Geschichte hat verrotten lassen. Die mehr kapitale Millionäre und Spekulationsgewinnler generiert als hochnotwendige Pflegekräfte. Andererseits, viele ihrer gealterten Arbeitskräfte, ehemalige Leistungsträger, zum Flaschensammeln in den Abfallkorb-Parcours zwingt, damit sie sich mal eine warme Mahlzeit leisten können. Argumente in Sachen materiellem „Wert“, die üppig und kontinuierlich von jeder Menge Medien, von Schulbüchern und anspruchsvolleren Kinder-Kanälen reichlich transportiert werden – und im Dauerfeuerwerk von „Warcraft“, „Deutschland sucht den Superstar“ oder dem Gehalt von Robert Lewandowski schlicht verschwinden. Ungeil. Unattraktiv. Wertlos. Wie sag ich’s meinem Enkel: Es gibt wirklich gültige Werte…
Matt entsinne ich mich eines Dauerstreites mit einem eigentlich bestens befreundeten Kommilitonen Mitte der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Er zärtelte mich als verstaubten Möchtegern-Idealisten, stets auf der Suche nach gültigen Werten beispielsweise im Kulturbereich, der nicht kapiert hätte, wie übel missbrauchbar der Begriff „Wert“ im Lauf der Zeit geworden sei. Einerseits als Definition beispielsweise des tollen „Börsenwertes“ eines Unternehmens. Andererseits als ideologischer Totschläger, mittels dessen seinerzeit die Amerikaner Vietnam entlaubten und entmenschten.
„Werte?“ Für ihn ein beliebig sortierbarer Kanon, der schon im Wortbegriff selbst bestimme, dass es nicht um Sittlichkeit oder Moralität ginge, sondern um etwas präzise Bestimmbares: „Welchen Wert hat ein Mensch? Was ist unwertes Leben? Bestimmbar mit den Mitteln des Marktes und des Handels. Daher auch die sogenannten typischen Werte bürgerlichen Lebens wie Fleiß, Disziplin, Pünktlichkeit. Ehrlichkeit?“ Haha. Herzlichkeit hätte da sowieso keinen Platz. Damit sind diese Wertfragmente beliebig verwertbar. Ein Kanon der Werte sei doch wohl nur dann sinnvoll zu bilden, wenn ein wirklich allgemeiner Konsens gefunden würde und dieser Ergebnis einer präzisen Aushandlung sei. Werte im üblichen, gebräuchlichen Sinn würden einem aber fast immer nur vorgesetzt, Ideologien im spirituellen wie im materiellen Raum entweder aus Rechthaberei, verblendeter Überzeugung, Machtgier, Sehnsucht nach Vorteil generiert. Und Carl Schmitt, ein „Kronjurist“ der Nazis, salbadert: „Wer Wert sagt, will geltend machen und durchsetzen. Tugenden übt man aus; Normen wendet man an; Befehle werden vollzogen; aber Werte werden gesetzt und durchgesetzt. Wer ihre Geltung behauptet, muss sie geltend machen. Wer sagt, dass sie gelten, ohne dass ein Mensch sie geltend macht, will betrügen. Niemand kann werten, ohne abzuwerten, aufzuwerten und zu verwerten. Wer Werte setzt, hat sich damit gegen Unwerte abgesetzt.“
Und das von einem, der als Rechtsaußen zur Nazizeit reüssierte. Mein Reservoir an Gegenargumenten schrumpfte, ohne meine Überzeugung zu demolieren, dass es sehr wohl allen zuvor moralischer Werte bedürfe. Wie sag ich’s meinem Enkel? Da schmückt sich gerade lautstark eine sogenannte „Werteunion“ im Schwefelparadies zwischen CDU und AfD. Absolut kontraproduktiv. Ihr allerwertester Boss namens Alexander Mitsch tritt für einen „starken deutschen Rechtsstaat“ ein. Von Zuwanderern wird „Assimilation statt Integration“ und die Orientierung „an einer europäisch-deutschen Leitkultur“ verlangt. (Quelle? Philipp Amthor, CDU?). Die Werteunion tritt für eine „am Bedarf des Arbeitsmarkts orientierte Einwanderung“ und eine „gesteuerte qualifizierte Zuwanderung“ sowie für eine restriktivere Asylpolitik ein und fordert einen besseren Schutz der Grenzen im Falle verstärkter Einwanderungsversuche. Ferner werden im Mittelmeer aufgegriffene Migranten an die Küste zurückgeführt, von der sie gekommen sind … Nein, wir leben nicht in Ungarn. Aber wie sag ich’s meinem Enkel? Am besten lass ich es drucken, das wirkt glaubwürdiger (falls er es liest) …
Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur