Es war schon die dritte Redaktion (diesmal der Miesenbacher Weltspiegel), aus der ich binnen zweier Tage rausflog: Schuld war nicht nur das allgemeine Schrumpfen aller Druckprodukte (nicht nur aus Papiermangel). Vielmehr hatten die elektronischen Medien jene langsame und ressourcenfressende Form von angeblich informativer Berichterstattung auf Papier „umweltschonend“ verdrängt und dabei den Stromverbrauch ums Tausendfache gesteigert, sondern auch noch milliardenfache Blödguckerinnen und Blödgucker produziert. [Vorab aus „Politik & Kultur“ 2022/06]
Das war möglich geworden, weil eine Horde aus Spin-Doktoren, Psychologen und stark gealterten kurzsichtigen Bundeswehr-Generälen dafür gesorgt hatte, dass die eigentlich fürs Militär gedachten hundert Milliarden Euro im entschieden friedensstiftenderen Ablenkungspotenzial amerikanischer und koreanischer Spielfilm- und Werbeserien sinnvoll eingesetzt werden könnten.
Zumeist bestand das Zeitungspersonal seitdem nur noch aus einem Bildschirmchecker im Schichtdienst, der rasch eingreifen konnte, wenn die Konkurrenz schneller an einen Superhotspot geraten sollte (was zu Zeiten der alles steuernden und prima vernetzten KI kaum noch vorkam), ferner aus zwei waffenmäßig bestausgerüsteten Wachoffizieren, die Nachrichtenräuber oder heimtückisch-erpresserische Netz-Geschwindigkeitsbremser zu vertreiben hatten.
Ich hatte nur noch vier Hühnerbrühwürfel zu essen (seit drei Tagen!) und war so erheblich vom Fleisch gefallen, dass mir die Hosen immer wieder um die Waden schlackerten und ich schon mehrfach wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses fast verhaftet worden wäre. Und beim krampfhaften Versuch (meinen Gürtel hatte ich gegen ein Brötchen eingetauscht), die Hosen hochraffend die Wachleute anständig zu passieren, ergriff einen von beiden (es war, glaube ich, gerade St. Martinstag) Mitleid. Und der flüsterte mir zu: „Versuchs doch mal bei Rosamundes Cinemax Rote Ritze, die hat ihren Gatekeeper grade rausgeschmissen.“
Ich gebe zu, dass dieses Lichtspielhaus nicht gerade den besten Ruf besaß. Dennoch frisst in der Not auch der Theo Fliegen. Ich klaute das Absperrband einer Baustelle, befestigte so meine Hose, um meinen trotz allen Darbens immer noch hundertzwanzig Zentimeter runden Bauch zu stabilisieren. Vor der Roten Ritze stand ein Bär von einem Mann mit einer Augenklappe. „Höre, Ihr sucht einen Einlasshelfer“, näselte ich freundlich. „Was willst denn Du fetter Zwerg“, röhrte das Einauge. In diesem Moment flog ein spilleriger Jüngling durch die Tür, gefolgt von einer üppigen rothaarigen Mittsechzigerin samt Besen. „Hau bloß ab, Du perverser Spargel. Unglaublich! Ich wundere mich, weshalb unser Laden so leer ist und stelle fest, dass dieser Kinderverderber statt ›Swinger auf dem Nanga Parbat‹ pausenlos ›Biene Maja‹ zeigt und unter den Bänken rumkrabbelt. Und was willst Du hier, Fettsack?“
„Ich bin diplomierter Bildschirmchecker und ein Freund von Dir hat mir gesagt, hier würde ’ne Stelle frei“. „Das muss wohl ein Hellseher gewesen sein“, fauchte mich die Rote an. „Aber einen Versuch ist es wert, drei Bitcoin unter Tarif die Stunde während der ersten zwei Jahre Probezeit, die von Fall zu Fall verlängert werden kann.“ Selbstverständlich akzeptierte ich diesen großzügigen Vorschlag, erhielt Gummihandschuhe und eine covidähnliche Maske, die freilich billigster Natur war. Ich wurde in den Technikraum geschubst und stand vor der dürftigen Bildschirmleiste. Auf dem mittleren Schirm lief tatsächlich noch „Heidi in Frankfurt“. Ich war wie verzaubert von den satten Farben und der reizvollen Alpenlandschaft. Tja, eigentlich wirklich eine entzückende unschuldige Liebesgeschichte im Unterschied zu den Metzgerei-Großaufnahmen nebenan. Seufzend wollte ich „Heidi“ stoppen, um ein etwas älteres Machwerk namens „Deap Throat“ einzulegen, da sprang die Tür auf und der Einäugige stürmte auf mich zu und packte meinen Hals. „Bist Du auch so ein veganer Puritaner, Du verknotetes Pinkelstöckchen. Leg sofort ›Das Ende der letzten Jungfrau ein‹ oder Du lernst fliegen!“ Ich begann, in den hüllenlosen klebrigen DVDs zu kramen, da packte mich der Unhold und gab mir einen Tritt ins Gesäß, sodass ich durch die Glastür auf den Bürgersteig knallte.
Als ich wieder aufwachte, saß die Rote neben mir mit einem Bündel blutig gefärbter Papiertaschentücher. „Sehr schönes Blut hast Du“, murmelte sie und wischte sich den Mund ab. „Wenn Du Lust hast, kannst Du mich gern mal abends besuchen – keine Arbeit – nur so.“ „Ich brauche aber dringend Arbeit“, nuschelte ich dank geschwollener Lippen.
„Geh mal in den Zoo Palast. Da ist gerade Mitgliederversammlung des PEN. Die wollen sich weg vom rein Schriftlichen endlich in eine multimediale internationale Gemeinschaft umformen, schon aus monetären Gründen. Da findest Du bestimmt einen Job. Für die Arbeit hier bist Du doch ein wenig zu sensibel.“ Ich warf ihr meinen zärtlichsten Blick zu und humpelte zum Zoo Palast. Da empfing mich ein Riesen-Geschrei. Einige Hiebe, die ich von offensichtlichen Freunden Werner Herzogs abbekam (Mützen mit Aufschrift), und einen Tritt von Wim Wenders später, der eigentlich Till Schweiger gegolten hatte, der sich mit Harry Hübchen in den Haaren lag, besser: diese schon in der Hand hielt, war ich im Vorführraum. Dort triellierten sich gerade Deniz Yüzel mit Josef Haslinger und Thea Dorn, die gerade versuchte, mit den Absätzen ihrer Pumps den Männern gleichzeitig die Augen auszuhacken. Daneben stand Nele Neuhaus und machte eifrig Notizen und Bildchen mit einer Polaroid-Kamera. Als Sebastian Fitzek mit einem Krummsäbel auf mich zustürzte, ergriff ich die Flucht.
So schnell ich konnte, rannte ich zur „Roten Ritze“, hämmerte an die Tür. Es öffnete die Besitzerin. „Fein, dass Du da bist.“ Da sah ich hinter ihr den Wachmann auf dem Boden liegen. Verknotet. „Denk Dir nix, das Ferkel hat versucht mich anzutatschen. Woll’n wir gemütlich einen Film gucken? Ich würd gern mal wieder ›Sissi‹ sehen …“
Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur