Die maskierten Mädchen in High-Heels und extrem kurzen Kleidchen reichen Sekt am Eingang. Drinnen plätschert sanfte Popmusik aus den Lautsprechern. Der Raum ist in rotes Licht getaucht. Rot sind auch die Samtsofas, die um den Tabledance gruppiert sind. In dem Leipziger Bordell werden die Tänzerinnen in dieser Nacht nicht zu einer Musik wie in anderen Nächten tanzen. Denn diesmal ist die Musik kein sanfter Pop. Heute führen Musiker hier zeitgenössische Musik auf. Live im Puff und mit tanzenden Mädchen.
Das Forum Zeitgenössischer Musik Leipzig (FZML) hatte die Idee dazu. Schon seit 2007 gibt es in Leipzig Konzerte mit Werken zeitgenössischer Musik an ungewöhnlichen Orten. Weil man raus müsse aus dem Konzertsaal und das Publikum dort erreichen wolle, wo es seine Freizeit und Arbeit verbringe, so der Komponist und künstlerische Leiter des FZML, Thomas Christoph Heyde. Deshalb auch der Titel der Reihe: Freizeitarbeit. Konzerte gab es unter anderem schon in einem Schwimmbad, im Arbeitsamt und auf einem Friedhof.
In der milden Novembernacht soll es nun das Bordell sein. Sicherlich der bisher streitbarste Ort, weswegen sich selbst die Boulevard-Medien im Vorfeld des Themas zeitgenössischer Musik annahmen. Freilich aus ihrer ganz eigenen Sicht.
Wo es langgeht an diesem Abend zeigt gleich am Beginn Daniela Zanger (Sopran) bei der Zuhälterballade aus der „Dreigroschenoper“. Mit laszivem Blick im roten Kleid arbeitet sie sich auf dem Tabledance von Stange zu Stange, bleibt stehen und flirtet mit dem Publikum. Das bekommt die Weill-Brecht-Kost nur am Anfang und am Ende mit der „Ballade von der sexuellen Hörigkeit“. Dazwischen wird es wirklich zeitgenössisch.
Daniela Zanger und Barbara Rucha (Klavier) erreichen ein zartes Schweben mit den „7 Erotic Songs“ des Österreichers Dirk D’Ase und den „Trois Poèmes d’Amour“ von Erik Satie. Sexuelle Neigungen und Perversitäten beschreibt die Sopranistin an der Bar mit Thomas Blumenthal (Gitarre) in den „Liderlichen Liedern“ von Gottfried von Einem.
Da gibt es zum Beispiel die Buchhalter-Regelmäßigkeit in der Gitarrenbegleitung, die den Transvestiten beschreibt, wenn er nicht in seine Rolle schlüpft. Zu Wilfried Krätzschmars „sérénade noire“ für Große Trommel will die Discokugel nicht so richtig passen und das Telefon, das hinter der Bar plötzlich klingelt, vertreibt kurz die peitschende, treibende Fahrt in die Welt der Lust.
Dass es dabei auch zur Sache geht und prickelnde Erotik irgendwann in ekstatischem Sex endet, ist in Thomas Christoph Heydes Werk „Wellen vom Untergrund“ zu spüren. Das Fagott (Kristian Petkov) malt gemeinsam mit elektronischen Samples diesen Weg musikalisch schlüssig nach. Anfangs ist das auch zu sehen, als eine Tänzerin durch die Bar stöckelt und sich ihren Freier aussucht. Der Rest läuft diskret hinter einem roten Samtvorhang ab – bis zum Coitus Interruptus.
Für Erotik – nicht nur im Kopf, sondern auch visuell – haben sich die Veranstalter „Rhythm strip“ des Isländers Áskell Másson ausgesucht. Zwei Snare-Drums (Gerd Schenker und Thomas Winkler) ergießen sich in aufwühlenden Rhythmen und neben jedem der beiden räkeln sich an den polierten Metallstangen zwei Tänzerinnen des Hauses. Die Gesichter hinter Masken verborgen – Anonymität ist Ehrensache in diesem Etablissement – werden Beine gestreckt und Oberteile vom Körper gezupft. Für alle ist das ungewohnt: Für die Tänzerinnen, sich zu versetzter Rhythmik zu bewegen. Und für die Musiker, Teil einer solchen Show zu sein.
Ob dieser Schritt für die zeitgenössische Musik wirklich etwas bringt? Gerd Schenker bleibt skeptisch. Er weiß aber auch, dass zeitgenössische Musik nicht gerade bekannt dafür ist, beim Konzertpublikum weit oben in der Gunst zu rangieren und auf den Spielplänen stark berücksichtigt zu werden. Weil er das mit verändern will, deshalb trommelt er auch einmal im Puff.