Hauptrubrik
Banner Full-Size

„Unser Kampffeld ist die Kultur“

Untertitel
Drangeblieben 2023/05
Publikationsdatum
Body

Das Kyiv Symphony Orchestra hat eine neue Heimat gefunden – vorübergehend – in Gera. Chefdirigent Luigi Gaggero ist dem Klangkörper enger verbunden denn je. (Quelle nmz 5/22)

Am Anfang stand eine Botschaft: Das Kyiv Symphony Orchestra war wenige Wochen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine zu einer befristeten Deutschland-Tournee aufgebrochen, um die Werte von Kunst und Kultur zu vermitteln. Natürlich sollte auf den Stationen in Dresden, Leipzig, Berlin, Wiesbaden, Freiburg, Hannover und Hamburg auch die kulturelle Eigenständigkeit des Landes transportiert werden. Ein von Symbolen befrachtetes Gastspiel also, bei dem unter der musikalischen Leitung von Chefdirigent Luigi Gaggero Kompositionen von Maxim Berezovsky, Ernest Chausson, Miroslaw Skorik und Borys Ljatoschynskyj erklangen.

Ausdrücklich ist hierfür auch den männlichen Orchestermitgliedern die Ausreise erlaubt worden. Jetzt, gut ein Jahr später, sind die Musikerinnen und Musiker des Kyiv Symphony Orchestra im thüringischen Gera zu Hause. Auch Luigi Gaggero, 1976 in Genua geboren, ausgebildet in Budapest und Berlin, seit 2018 Chefdirigent in Kyiv und seitdem im Spagat zwischen Ost und West (da er in Strasbourg einen Lehrauftrag innehat), lebt zeitweise in Gera. Denn sein Orchester hat dort eine feste Residenz gefunden, die von der deutschen und der ukrainischen Regierung ausdrücklich unterstützt wird.

„In Kyiv hat man zum Glück verstanden, dass dieses Orchester für das Land viel nützlicher ist, wenn es Musik macht“, erläutert Gaggero, „denn unser Kampffeld ist die Kultur.“ Gegenwärtig werde über eine Verlängerung dieses Status’ verhandelt.

Neben Möglichkeiten zum Proben, die den Zusammenhalt des Orchesters bestärken, gibt es seit kurzem auch einen Konzertplan, der regelmäßige Auftritte in Gera beinhaltet. Aufgrund der Ausnahmesituation werde relativ kurzfristig geplant, so der Chefdirigent. Zu den monatlich zwei bis drei Konzerten kämen auch immer wieder spontane Einladungen zu Kammerkonzerten und Gastspielen. Ausflüge nach Grafenegg seien fest vereinbart, im Herbst stehe eine Tournee durch Polen an, bereits im Juni werde in Nürnberg gastiert und kurz darauf auch wieder in der Berliner Philharmonie. Letzteres wurde ermöglicht durch eine soeben vereinbarte Patenschaft, die sowohl das Kyiv Symphony Orchestra als auch das von Oksana Lyniv ins Leben gerufene und geleitete Jugendsinfonieorchester der Ukraine betreffe. Konkrete Inhalte würden mit den Berliner Philharmonikern gerade besprochen, neben etwa vier Konzerten pro Spielzeit gehe es in dieser Zusammenarbeit auch um pädagogische Projekte sowie um die Beschaffung von Ins­trumenten und Noten.

Luigi Gaggero betont, wie dankbar er und die Orchestermitglieder für diese Patenschaft seien. Ebenfalls erfreulich sei die Zusammenarbeit mit dem Orchester des fusionierten Theaters Altenburg Gera, die im Dezember ein gemeinsames Konzert mit ukrainischem Repertoire und einer Mahler-Sinfonie beinhalten werde. „Ich fühle mich dort zu Hause“, so der sympathische Italiener, „wo ich die Sachen machen kann, die ich am meisten liebe. Und das ist nun mal die Arbeit mit meinem Orches­ter.“ Der Hauptwohnsitz seiner Seele sei derzeit somit in Deutschland. Aufgrund der besonderen Situation, so sieht es Gaggero, würden bei den Musikerinnen und Musikern aus Kyiv „die natürlichen Eigenschaften, wie es sie vor dem Krieg schon gegeben hat, nur mehr ver­stärkt: eine besondere Intensität, denn in jedem einzelnen Ton geht es ganz eindeutig um Leben und Tod.“ Das spüre er jetzt im buchstäblichen Sinne, sagt er, da sein Orchester „ganz, ganz nah an etwas Wahrhaftigem“ musiziere.

Für die Programmgestaltung werde etwa zur Hälfte ukrainische Musik ausgewählt: „Ich versuche, musikalische Wahlverwandtschaften zu finden und so die Konzerte für Publikum und Orchester interessant werden zu lassen.“ Unter diesem auch persönlich sehr aufwändigen Engagement leide zwar seine solistische Konzerttätigkeit als Zymbalist und Schlagzeuger, räumt der Allrounder ein, doch einerseits sei diese Arbeit ein „Ausdruck der Seele“ und andererseits empfinde er das Kyiv Symphony Orchestra mehr und mehr als seine Familie. „Es herrscht hier eine sehr liebevolle Stimmung, und danach klingt es dann auch in den Proben sowie in den Konzerten.“

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!