Urlaubsbedingt wechseln wir mit unseren Stream-Hinweisen vorübergehend in einen zweiwöchigen Rhythmus. Genügend Zeit, das nun ausgeweitete Bayreuther Wagner-Programm, Berliner Jazz- und Radiokunst, Mainzer Beethoven-Reflexionen, Salzburger Mozarteum-Produktionen und das öffentlich-rechtliche Wim-Wenders-Füllhorn zu goutieren. Wohl bekomm‘s! [jmk]
Ab 8. August
Bayreuther Festspiele
Videos on demand bei Deutsche Grammophon Stage
Jeweils 48 Stunden ab Start verfügbar, € 4,90 pro Vorstellung
Im neuen „unübersehbar“ kann man erfreulicherweise eine Anmerkung zu den Bayreuther Festspielen korrigieren. Sah es anfangs noch so aus, als würde sich die Gemeinde in Sachen Nibelungen-Ring im Bewegtbild mit der (frei zugänglichen) Barenboim-Kupfer-Produktion trösten müssen, so ist jetzt die Deutsche Grammophon mit im Boot der alternativen Festspiele im Netz und ermöglicht einen August mit reichlich Wagner vom Grünen Hügel. Dabei wird es an etlichen Tage sogar die im Festspielhaus ursprünglich geplanten Stücke geben. Im aktuellen Empfehlungszeitraum wird nun nämlich auch der heiß diskutierte „Ring des Nibelungen“ von Frank Castorf zu sehen sein. Zwar nicht mit dem ursprünglich am Pult stehenden Kirill Petrenko, sondern unter Leitung von Marek Janowski, in einer Aufzeichnung von 2016. Aber der ist ja ein versierter Ring-erfahrener Wagnerdirigent. Am 8. August steht die die Rast der Götter in dem Motel an der Route 66 im „Rheingold“ auf dem Programm. Tags darauf geht es in die Ölfelder von Baku („Walküre“), am 12.8. dann im „Siegfried“ auf Klettertour in den Mount Rushmore der verwitterten Klassiker des Kommunismus und zu den Krokodilen auf den Alexanderplatz, bis schließlich am 13. August die „Götterdämmerung“ über die New Yorker Börse und ein besonderes Stück Berlin hereinbricht.
Damit nicht genug: In der Woche darauf wird der kapitalismuskritische, als Jahrhundertring in die Festspielgeschichte eingegangene Ring von Patrice Chérau und Pierre Boulez aus dem Archiv geholt. Eine interessante Abfolge und apartes Vergleichs-Schmankerl! Für diese Festspiel-Produktionen, fallen zwar 4,90 € pro Vorstellung an, dafür es gibt aber selbstgewählte bequeme Sitzmöglichkeiten daheim und, anders als im Festspielhaus, beeinflussbare Raumtemperaturen. Was ein wenig darüber hinwegtrösten mag, dass der genius loci, der natürlich in Bayreuth immer eine der wichtigsten Nebenrollen spielt, in Quarantäne ist.
Zu diesen Ringschätzen gibt es dann am 15. August auch auch noch den aktuellen in Neo(n)Blau gefluteten „Lohengrin“ (Yuval Sharon/Christian Thielemann), am 19.8. die witzig hintersinnigen „Meistersinger“ (Barrie Kosky/Philippe Jordan) und am 20.8. den allseits bejubelten Vorjahres-„Tannhäuser“, bei dem die Regie von Tobias Kratzer gewisse Einwände gegen das Dirigat von Valerij Gergiev deutlich überstrahlte.
[Joachim Lange]
Ab 10. August
Jazzwoche Berlin #2
Montag 10. bis Sonntag 16. August 2020
Livestreams – Programm über die Webseite von Field Notes
„7 Tage Jazz, Improvisierte Musik und Diskurs: in Ateliers, kleinen oder größeren Clubs, Bars und Kleinstspielstätten. Drinnen, draußen und digital. Die Jazzwoche Berlin #2 richtet den Fokus auf die freie Jazz- und Improvisationsszene der Hauptstadt – nicht als kuratiertes Festival, sondern indem sie abbildet, was die Szene unter diesen besonderen Bedingungen aus sich heraus präsentiert. Denn gerade eben erwacht die Szene aus dem Lockdown: Musiker*innen entwickeln neue Formate, und der umfangreiche Konzertkalender zeigt, wie sehr die Szene auf die Bühne will. In den Spielstätten geht es um Hygienekonzepte und Abstandsregeln, und nur wenig Publikum darf hinein um am Live-Erlebnis teilzuhaben. Diese noch ungewohnte, aber womöglich lang anhaltende neue Normalität will die Jazzwoche Berlin #2 zeigen. Deshalb findet die Jazzwoche Berlin #2 auch im Internet statt: Auf www.jazzwoche.berlin sind viele der stattfindenden Konzerte für ein weltweites Publikum erlebbar. Und weil es wichtig ist, ein Zeichen für den Wert von Musik im digitalen Raum zu setzen, sind die Livestreams nur mit Eintritt zu sehen.“
Zitat Ende. Die so genannten Diskurs-Veranstaltungen dagegen sind kostenlos. Ich kann das alles nur empfehlen und zum Probieren vorschlagen. Wie immer weiß man vorher nie genau, was hinten herauskommt. Musikalische Unikate sind sicherlich unvermeidbar – und das soll so! (sein!!) – und hilft der einen oder dem anderen ein bisschen über den Berg der Corona-Beschränkungen und das lange tiefe Tal der entgangenen Gagen.
[Martin Hufner]
Ab 11. August
Listening to the Universe – Radiophonien des Alls
Ein 48-stündiges Radiokunst-Festival auf der Webseite von Datscha Radio
11. bis 13. August
Die Berliner Subkultur hat ja schon länger das Tageslicht und die frische Luft für sich entdeckt. Selbst der Schrebergarten, diese altgediente Schnittstelle von Mensch, Bier, Natur und Kosmos, wurde im Zuge forcierter Urban-Gardening-Aktivitäten inzwischen soziologisch adoptiert und mit dem Geist der Utopie aufpoliert. Ein illustre Mischung aus Künstlerkollektiv und Radiokunst-Initiative mit dem ökologischen und ästhetischen Sendestandort Kleingarten ist „Datscha Radio“. Diesmal blicken die radiophonen Gärtner aber nicht Richtung Nacktschnecken, sondern gen Äther, wenn die Meteorschauer der Perseiden zum astronomischen Spektakel bitten. Die sind der kosmische Anlass eines 48-stündigen „Radiokunst-Festivals“ unter dem Titel „Listening to the Universe – Radiophonien des Alls“, das in Klang und Text der schillernden Vergänglichkeit „in Raum und Materie“ nachspüren will, insbesondere den funkelnden Absonderungen des Kometen 109P/Swift-Tuttle.
Geladen sind dazu die Künstler*innen Jasmina Al-Qaisi & Helena Otto, Kata Kovacs & Tom O’Dogherty, Elo Masing und Marta Zapparoli. Für kurze Interventionen, DJ-Sets und Lesungen sind Anja Breljak, Ally Bisshop, Cedrik Fermont, Rosanna Lovell, Leonie Roessler, Jodi Rose, Cobi van Tonder und Salomé Voegelin angekündigt. Das Programm wird ergänzt durch voraussichtliche Gast-Streams von Archipel Stations/Berlin und Marold Langer-Philippsen/Bratislava. Konzipiert und organisiert haben Gabi Schaffner, Kate Donovan, Niki Matita und Helen Thein. Sendestart ist der Monduntergang am 11. August um 14:04.
Wenn das alles nur halb so schräg wird wie so manche Trouvaille, die auf der hauseigenen Website dokumentiert ist, lohnt sich das Reinklicken ins akustische Potential von Himmel und Erde ganz gewiss…
[Dirk Wieschollek]
Bis 12. September
Staatstheater Mainz: „Beethoven – Ein Geisterspiel“
Video on demand bei 3sat
Deutschland feiert ein Beethoven-Jahr, denn vor 250 Jahren erblickte der spätere Komponist Ludwig van Beethoven das Licht der Welt. Während viele Häuser und Veranstalter*innen dies zum Anlass nehmen, seine Sinfonien und Sonaten aufzuführen, die pandemiebedingt an manchen Orten schon fast 6 Monate nicht mehr zu hören waren, realisierte das Staatstheater Mainz etwas Neues.
Die Figur des Anton Schindler, Sekretär Beethovens und Verfasser der ersten, mit kreativen Eigenanteilen ergänzten Beethoven-Biografie, führt durch die Geschichte. In einem längst geschlossenen, heruntergekommenen Beethoven-Vergnügungspark scheinen noch einmal Szenen aus seinem Leben auf, die den Menschen Beethoven präsentieren.
Durch den Fokus auf dessen durch den Gehörverlust verbundene Isolation und Vereinsamung entsteht ein konkreter Bezug zwischen dem vor 193 Jahren verstorbenen Künstler und der Gegenwart in sozialer Distanz. So agieren auch die Darsteller*innen getrennt voneinander. Das Philharmonische Staatsorchester Mainz wird von ihrem Leiter aus dem Orchestergraben dirigiert, ohne dass die Musiker*innen im selben Raum sind. Aus allen musikalischen, darstellerischen und bildnerischen Versatzstücken entsteht eine biografische Collage, die die Mittel von Oper, Theater und Film vereint.
[Juana Zimmermann]
Bis 14. September
Wim Wenders – Werkschau
28 Filme 1976– 2011 in der ARD Mediathek
Die atmosphärischen Scores Jürgen Kniepers oder Ry Cooders, der beiläufige und doch punktgenaue Einsatz von Songs aus der Rock- und Popgeschichte, die Zusammenarbeit mit lokalen Künstlern wie Madredeus und natürlich die Dokus „Buena Vista Social Club“ oder „Pina“. Keine Frage – Wim Wenders ist ein eminent musikalischer Regisseur, der es auch meisterhaft versteht, in die Klänge von Städten und Orten hineinzuhorchen, sie und die verwendete Musik zu einer eigenständigen Erzählebene zu verdichten.
In diese klingende Filmkunst kann man noch bis Mitte September in einer opulenten Werkschau anlässlich von Wenders’ 75. Geburtstag eintauchen. Es geht schon immer wieder mal was im öffentlich-rechtlichen Rundfunk…
[Juan Martin Koch]
Bis auf weiteres verfügbar
Opern-Produktionen der Universität Mozarteum Salzburg
Videos on demand auf der Webseite der Universität Mozarteum
Die Online-Dokumentationen des Mozarteums Salzburg bestätigen eine geschickte Auswahl von Ensemble-Stücken, in denen sich Studierende mit bis zu drei Besetzungen und oft beeindruckenden Gesamtleistungen präsentieren. Damit ist die Musikuniversität in Sachen öffentlich verfügbare Digitalisierung weitaus aktiver als viele Subventionstheater. Große Szenenblöcke und vollständige Mitschnitte solistenreicher Produktionen geben einen guten Eindruck davon, mit welcher Intensität die Studierenden unter der szenischen Leitung von Karoline Gruber und Alexander von Pfeil die Sujets im Großen Studio gegenwartsnah und intensiv erarbeiteten. Programmhefte und Besetzungen befinden sich direkt auf den Submenüs der jeweiligen Aufzeichnungen, es gibt Untertitel in deutscher Sprache. Die Kameraführung ist unauffällig und dramaturgisch sinnfällig, Immer wieder überraschen die Produktionen mit ungewöhnlichen szenischen Coups, etwa wenn der im Rollstuhl sitzende Fürst Gremin seine in die Arme Onegins sinkende Frau Tatjana erschießt.
Verfügbar sind: „Owen Wingrave“ (Britten), „Il mondo della luna“ (Haydn), „Reigen“ (Boesmans), „A Midsummer Night‘s Dream“ (Britten), „La finta semplice“ (Mozart), „Alcina“ (Händel), „Le nozze di Figaro“ (Mozart) und „Eugen Onegin“.
[Roland H. Dippel]