Alles Oper oder was? So sah es zunächst aus für unsere 22. Ausgabe von „unübersehbar“, bis die Kollegen Hufner und Wieschollek noch je einen Tipp zum Thema Jazz und zur Gegenwartsmusik aus dem Hut zauberten. Viel Freude damit und – auch wenn das hier ein knallhartes Geschäft ist – immer schön lächeln! [jmk]
Ab 9. Oktober
Staatsoper Hannover: „Trionfo. Vier letzte Nächte“
Video-Livestream am 9. Oktober, 19:30–21:30 Uhr bei Operavision. Danach bis 09.04.2021 verfügbar.
Die Live-Aufführung ist in italienisch und wird mit englischen Untertiteln gesendet. Deutsche Untertitel werden später verfügbar gemacht.
Ohne Ouvertüre und Orgelsolo, dafür mit zusätzlichem Chor wird aus Händels Oratorium „Il trionfo del tempo e del disinganno“ in Hannover die Oper „Trionfo. Vier letzte Nächte“. Händels vier Allegorien, Bellezza, Piacere, Tempo und Disinganno werden in der Inszenierung der Regisseurin Elisabeth Stöppler zu vier Menschen. Vier Leben in einem alles entscheidenden Moment. Vier Menschen im Dunkel der Nacht, die um existenzielle Fragen über ihr Leben und das Leben im Allgemeinen ringen. Wer bin ich jenseits der Familie? Was bleibt von mir nach dem Tod? Bin ich im richtigen Körper geboren? Was soll das eigentlich alles? Will ich wirklich so leben?
In einer modernen Inszenierung mit Monologen in Englisch, Zulu, Niederländisch und Italienisch und dem Wissen um eine globale Pandemie soll aus dem barocken Stück Gegenwart werden.
Der Welt-Kritiker Manuel Brug war bereits bei der Premiere vor Ort anwesend und schrieb: „Der Triumph der Zeit und der Enttäuschung über die Schönheit und das Vergnügen ist auch in Hannover ein so frivoler wie moralischer Diskurs, der sich arios überhöht, wiederholt und variiert.“
[Juana Zimmermann]
11. Oktober
Landesjugendjazzorchester Hamburg: Modern Tradition
Live und im Stream am 11.10.2020, 19:00 Uhr via YouTube-Kanal von hamburg.stream
„Der Komponist und Arrangeur Jörn Marcussen-Wulff prägt seit über 10 Jahren vor allem als künstlerischer Leiter der umtriebigen Bigband ‚Fette Hupe‘ aus Hannover das Klangbild eines modernen, europäischen Jazzorchesters in der deutschen Jazzszene. Seine Musik steht für den neuen Zeitgeist junger europäischer Bigband Arrangeure, die Konventionen aus dem Weg gehen und ihre Suche nach einer eigenen musikalischen Sprache und Ausdruck unbeirrt vorantreiben. ‚Die Geschichte zeigt, dass Innovation und Weiterentwicklung nur mit dem Wissen um die Vergangenheit entstehen kann‘ sagt Marcussen-Wulff und macht keinen Hehl daraus, wie wichtig ihm die Tradition (nicht nur) der Bigbandmusik in seinen Kompositionen ist, ohne diese dabei retrospektiv klingen zu lassen. Für die Arbeit mit dem Landesjugendjazzorchester Hamburg hat der hannoversche Musiker einen Querschnitt seiner Arbeiten aus den letzten Jahren zusammengestellt. Tradition trifft Moderne – Modern Tradition“ – so kann man es in der Ankündigung lesen. Wir wissen alle, dass die Landesjugendjazzorchester durch die Bank weg hervorragend aufgestellt sind. Für ordentliches Gebläse in Sicherheit sorgt sicher der Stream, für eine massive Empfindungsstärke muss der Besuch angeraten werden. Die Musikerinnen und Musiker haben einiges nach- und aufzuspielen, seit die Frühjahrsarbeitsphase der des Jazzorchesters pandemiebedingt ausfallen musste.
[Martin Hufner]
Bis 16. November
ManiFeste 2020 (IRCAM)
Videostreams on demand auf der Festival-Homepage
Im Spätsommer dieses Jahres fanden im Pariser Centre Pompidou die „ManiFeste“ statt, das Festival für zeitgenössische Musik des Pariser IRCAM, das sich in diesem Jahr weniger der elektroakustisch durchmikroskopierten Instrumentalpartitur als der wandlungsfähigen Unmittelbarkeit der menschlichen Stimme verschrieben hatte. Die Namen der Performerinnen sprechen für sich: Juliet Fraser, Agata Zubel, Sarah Maria Sun. Jetzt werden alle sechs Konzerte zwischen dem 5. Oktober und 16. November wöchentlich online gestellt. Darin Uraufführungen von Daniele Ghisi, Daniel D’Adamo, Philippe Hurel, Ivan Fedele, Rebecca Saunders und Marta Gentilucci. Freuen darf man sich des weiteren ganz besonders auf die vollständigen „Lessons“ von Fausto Romitellis „Professor Bad Trip“ (1998–2000).
Den Anfang der Retrospektive in binauraler Abmischung der Originalkonzerte macht das Ensemble Musikfabrik unter Leitung von Enno Poppe (5.–12. Oktober), dessen „Ouverture“ unter anderem eine knisternde französische Premiere von Rebecca Saunders „Nether“ (2017/19) enthält.
[Dirk Wieschollek]
Bis auf weiteres verfügbar
Taschenopernfestival Salzburg: Gordon Kampe – „Ich will lächeln, lächeln, lächeln“
Videostream on demand auf der Homepage von Klang21 sowie auf YouTube und Vimeo
Nach und nach veröffentlicht das Taschenopernfestival Salzburg den kompletten Mitschnitt seines Programms von 2019 – „Salzburg liegt am Meer“. Die Vorlagen der fünf zu einem kompletten Theaterabend in einer übergreifenden Inszenierung zusammengeschlossenen Kurzopern stammen von William Shakespeare. Gordon Kampe hat sich für „Ich will lächeln, lächeln, lächeln“ den bedauernswerten Malvolio aus „Was ihr wollt“ vorgenommen und lässt ihn doppelt – als Tenor und Countertenor – an dem „durchtrieb’nen Streich“ auf seine Kosten und der Gelbheit seiner Strümpfe verzweifeln. Das achtköpfige Ensemble (das oenm unter Peter Rundel) fächert er farbig und prägnant auf, sanft schimmert englische Renaissance durch. Auch filmisch toll umgesetzt!
[Juan Martin Koch]
Oper – das knallharte Geschäft. Ein Film von Stefan Braunshausen (D 2019)
Videostream on demand bei 3sat, verfügbar bis 11.01.2021
Eigentlich hätte an dieser Stelle die Mediathek-Empfehlung für ein wiederentdecktes Oratorium stehen sollen, das in der Aufnahme eines Chors mit großem Namen online verfügbar ist. Aber soeben wurde die CD veröffentlicht und es wäre illegitim, zeitgleich ein Gratisangebot zu streuen.
Deshalb sei der Tipp heute dem erstmals im Januar 2020 gesendeten Film von Stefan Braunshausen gewidmet: Der Report bringt viele Fakten aus dem Schatten des Opernbusiness großen Stils auf den Punkt. Allerdings aus einem luxuriösen Blickwinkel, der sich bei Braunshausen in erster Linie auf Star-Niveau bewegt. Stars gibt es allerdings nur dort, wo Scharen der gleichen Profession im Schatten stehen. So kommen in diesem Film mehrfach gemeisterte Probleme zur Sprache, die andere gerne hätten. Zum Beispiel ist das Saarländische Staatstheater Saarbrücken nur vom Gipfelkamm zwischen MET und Palais Garnier betrachtet ein „kleineres Haus“ und viele begabte Sänger*innen geraten gar nicht erst an jene Partien, in denen andere sich mit knapp 30 durch Überbeanspruchung, Karrieredruck und Ehrgeiz fast ruiniert hätten. Trotzdem ist dieser Film auch nach dem Lockdown und in den dadurch veränderten wirtschaftlich-künstlerischen Bedingungen wichtig. Denn deutlich wird: Für Sänger*innen und andere Kulturschaffende gibt es keine Ruhe, sondern allenfalls akute Wildwechsel zwischen physischer und psychischer Hochspannung. Wann folgt Teil 2 mit Beteiligten aus Augsburg, Aachen und Annaberg-Buchholz? Braunshausens Gesprächspartner*innen antworten profund und ehrlich: Jonas Kaufmann, Tenor – Asmik Grigorian, Sopran – Elsa Dreisig, Sopran – Brigitte Fassbaender, Regisseurin – Antonio Pappano, Dirigent – Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt und der Tiroler Festspiele Erl.
[Roland H. Dippel]
Nationaltheater Mannheim: NTM Digital
Kompakt-Opern und weitere Videostreams on demand auf der Homepage des NTM
Die gute Nachricht ist: die Opernhäuser kehren mit Beginn der Spielzeit zurück zum Livebetrieb mit Zuschauern vor Ort. Als Kehrseite davon fahren sie allerdings auch die Live-Stream Angebote wieder herunter. Viele suchen nach einer Balance, andere setzen sogar auf einen Ausbau einer eigenen Digitalsparte. Eine Art Mittelweg bietet das Nationaltheater Mannheim an.
Dort gibt es auf der Homepage unter der Rubrik NTM Digital eine Reihe mit Diskussionbeiträgen zu aktuellen Fragen der Entwicklung der Theater. Daneben aber steht eine Auswahl von digitalen Angeboten abrufbereit zur Verfügung, die hauseigene Produktionen vorstellen bzw. an sie erinnern. Unter dem Label „Oper kompakt“ gibt es dabei keine eingedampfte Kurzversion (wie an manchen Häusern als Reaktion auf die Anticoronaregeln auf der Bühne) sondern ungefähr in der Länge eines Aktes einen Einblick in die jeweiligen Produktionen des Hauses, mit kurzen Unterbrechungen durch Statements oder Probenberichte.
Das ist zwar nicht der ganze Operngenuss, aber deutlich mehr als ein Trailer. Für Oper auf dem Bildschirm eigentlich ein guter Kompromiss, der für die Opernbesucher selbst wie ein Archiv wirken und für das interessierte Publikum außerhalb durchaus als Anregung und Appetitmacher fungieren kann.
Roger Vontobels „Fidelio“-Inszenierung aus dem Jahre 2017 passt in ihrer ästhetischen Radikalität auch noch ganz hervorragend ins zwangsweise unter reduzierten Bedingungen stattfindende Beethovenjahr. Im Bühnenbild von Claudia Rohner steht der Kerker metaphorisch im Zentrum einer Deutung, die auch in dieser 45-minütigen Kompakt-Version unter die Haut geht.
Vom selben Regisseur ist ein 35-minütiger Querschnitt seiner „Aida“ zu sehen, mit der die Spielzeit 2016/17 eröffnet wurde. Auch in der dritten Kompakt-Oper, den „Meistersingern von Nürnberg“ spielen die Chöre eine so tragende Rolle, dass an eine Live-Aufführung in absehbarer Zeit wohl nicht zu denken ist. So hat die 50 Minuten dauernde Erinnerung an Nigel Lowerys witzig hintergründige Version von 2018/19 auch etwas Melancholisches. Schließlich macht die 35-minütige Carmen-Kompaktversion von Yona Kims gesellschaftskritisch unfolkloristischer Deutung, die der Inszenierung vom Dezember 2019 folgt, Lust auf mehr.
Die Sparte NMT Digital jedenfalls ist beispielhaft und zukunftsträchtig.
[Joachim Lange]