„Die Orte, an denen es noch Abenteuer zu erleben gibt, werden weniger, aber da gibt es noch Möglichkeiten, man muss nur jung sein“ mutmaßte Claude Levi-Strauss in einem Interview, das aus dem Off zitiert wird. Erfahrungen im Theater, die noch nicht gemacht worden sind, dürften ebenfalls nicht mehr so viele übrig sein. Die Ruhrtriennale unter Leitung von Heiner Goebbels zeigt zumindest neue Möglichkeiten auf – etwa wenn sie jetzt mit „Stifters Dinge“ aus der Feder des Intendanten selbst ein völlig unbemanntes Musiktheaterstück präsentiert. Wenn man von den zwei Komparsen absieht, die zu Anfang des Stückes ein weißes Pulver auf der Bühne zerstreuen…
Etwa der imaginierte Schnee in den Winterlandschaften, durch die ein Adalbert Stifter streifte? Zwischen diesem Autoren der Einsamkeit und dem industriellen Ambiente der Kraftzentrale in Duisburg liegen gefühlte Welten – und die audiovisuelle Bühnenkunst, mit der dieses Vakuum sinnhaft ausgefüllt werden soll, muss komplex, verstörend und verwirrend sein. Zumindest war man nach einer guten Eineinviertelstunde tief hineingezogen in einen hermetischen, dunklen Kosmos, war mit faszinierenden Bildern und Klängen und philosophischen Gedankensplittern und den lakonischen Naturschilderungen von Adalbert Stifter selbst so ganz – auf sich allein gestellt. Eben so, wie der Autor Adalbert Stifter, der die Weiten der böhmischen und bayerischen Wälder durchstreift, und der sich so ganz der einsamen Anschauung der Dinge an sich verschrieben hat.
Heiner Goebbels hat in seiner Karriere schon viele Hörstücke geschaffen. Einige davon fokussieren sich auf eine einzige Person, um die Idee, die von diesen transportiert wird, künstlerisch zu überhöhen. Die Ruhrtriennale mit ihren Räumlichkeiten und schier grenzenlosen technischen Möglichkeiten bietet hierfür beispiellose Potenziale auf, um solche Vorgänge in wahrhaft kolossalem Ambiente zu monumentalisieren. „Stifters Dinge“ bleibt von seiner Kernidee her der Heiner Goebbels-Hörstück-Tradition verhaftet. Musik, Klänge und Texte wirken miteinander, verdichten einander – drumherum zielen kolossale Visualisierungen auf die Gesamtkunstwerks-Idee ab. Hier ist es eine entmenschte Welt und das Stiftersche Natur-Szenerio wird in der Duisburger Maschinenhalle in ihr Gegenteil transformiert. Auf Stahlschienen rollt der Klangapparat: Die riesenhafte Apparatur besteht aus fünf aufgetürmten Klavieren und Flügeln, die mit komplizierter Roboter-Technik in den Status der Selbstspielbarkeit gehoben worden sind - dazu kommt eine elektromechanische Bassdrum, Lautsprecher, Projektoren und Nebelmaschinen.
Irgendwann während der Aufführung, wenn sich die Emotionalität verdichtet, rollt der ganze Apparat auf sein Publikum zu – um sich dann aber wieder zu entfernen. Der Weg des Individuums führt in die einsame Ferne. Die Klangwelten dazu entsprechen der kompositorischen Handschrift von Heiner Goebbels, der weiß wie Worte wirken, wenn sie in eine entsprechende Klang-Atmosphäre geworfen werden. Es wabern grollende Subbässe durch den Raum und lassen unheimliche Dark Ambient Soundflächen eine mysteriöse Stimmung wie in einem Michael-Haneke-Film aufkommen – eben weil das Fehlen von Menschen auf der Bühne noch zusätzlich den Unheimlichkeits-Faktor verstärkt. Stimmfetzen und Zitate irrlichtern durch den Raum. Da leuchtet ein Bach-Klavierstück wie ein einsames in einer Winternacht beleuchtetes Haus. Und die Klaviermaschinen spielen gespenstisch-virtuos in minutiös koordinierter Programmierung expressionistisch anmutende Zwölftoncluster, denn auch hier kommentiert die Musik weiter, wo Bilder und Worte enden. Wasser tropft und Nebel wabert. Man fühlt sich verloren in einer menschenleer gewordenen Welt – und erlebt die Vision eines maschinenhaften Theaters.