In Bezug auf die Präsenz der zeitgenössischen Musik gibt es unterschiedlichen Regionen: solche, die eher reich sind wie Süddeutschland, besonders Freiburg, und solche, die eher eine Wüste sind wie die Millionenstadt Hamburg. An der Alster gibt es so gut wie überhaupt keine Neue Musik, zumindest nicht in den öffentlich subventionierten Institutionen. Aber die Stadt tut auch nichts für außerhalb stehende Initiativen – mehr als peinlich. Trotzdem lebt da so ein kleines Pflänzchen, das inzwischen ein bedeutender Baum geworden ist und wer den Besucherstrom der diesjährigen „Klangwerktage“ in der Fabrik Kampnagel zur Kenntnis nimmt, muss feststellen, dass es sogar einen Bedarf gibt.
Die „Klangwerktage“ fanden zum sechsten Mal statt, jetzt zum dritten Mal unter der künstlerischen Leitung von Christiane Leiste. Die finanzielle Basis ist hauptsächlich das „Netzwerk Neue Musik“ mit „Klang“. Natürlich hat es hinten und vorne nicht gereicht, aber mit Hilfe von etlichen weiteren Stiftungen hat das Hamburger Team mit einem Etat von 150.000 Euro alles möglich gemacht und völlig unterschiedliche BesucherInnen vier Tage lang nach Kampnagel gelockt.
Die diesjährige Konzeption „Musik aus dem Iran“ lockte sogar Menschen, die sonst mit zeitgenössischer Musik nichts am Hut haben. Das Thema hat Leiste vielfältig beleuchtet und es bei weitem nicht bei Musik belassen. Es gab Filme, Diskussionen, Musiktheater und wie immer eine große programmatische Installation: hier dieses Mal das geheimnisvolle „Khiyal“ – was auf persisch so viel heißt wie Traumbild – realisiert von den Studierenden des Studienganges Architektur der Hafen City Universität. Auf seine Tuchskulpturen und Musik durch die Hochschule für Künste in Bremen und die Hochschule für Musik und Theater in Hamburg reagierte ein Zuschauer/hörer: "Verträumt, verwirrt, begeistert verlässt der Besucher die Installation – noch tagelang treten neue, flüchtige Traumbilder vor Augen."
Eigentlich kann man sich gar nicht vorstellen, dass es im Iran keine zeitgenössische Musik – in unserem Sinne – gegeben hat, bis der 1940 geborene Alireza Mashayekhi kam. Der hatte in Wien und Darmstadt studiert und gründete 1991 das „Iranian Orchestra for New Music“, das sich mit westlichen und persischen Instrumenten ausschließlich persischer zeitgenössischer Musik widmet und zum ersten Mal in Europa auftrat. Der das Festival abschließende umjubelte Auftritt des Orchesters war ein zutiefst bewegendes Dokument dieses leidenschaftlichen Lebenswerkes Mashayekhis. Seine Musik hat – ganz entfernt natürlich - viel mit Gustav Mahler zu tun – in ihrem reflektierenden und häufig trauernden Rekurs auf Vergangenes.
Gustav Mahler beschäftigt auch Nader Mashayekhi – ein entfernter Verwandter Alirezas – , der 1958 geboren ist und der sich nach dreißigjährigem Leben in Wien einen Lebenstraum verwirklichen wollte: in Teheran ein Sinfonieorchester zu gründen, um die Menschen an die Musik heranzuführen. In dem großartigen Film „Gozaran – time passing“ dokumentiert Frank Scheffer diesen am Ende gescheiterten Versuch. Immer wieder spricht Nader Mashayekhi dabei von den Klängen Mahlers, der Ohren und Herz auf was ganz anderes öffne. Seine in Hamburg uraufgeführte „Irdische Offenbarung“, eine Auftragskomposition der „Klangwerktage“ verbindet auf faszinierende Weise persischen und europäischen, expressionistischen Gesang (Sepideh Vahidi und Marlis Petersen) für die Annäherung an einen Text der persischen Kultdichterin Forugh Farrochsad (1934–1967). Deren Texte nutzte auch eine weitere Auftragskomposition des iranischen, in Bremen lebenden Komponisten Ali Gorji mit dem ganzen sensiblen Klangreichtum westlicher Avantgarde, auch sehr leiser Töne: „Merke dir den Flug – der Vogel ist sterblich“ (2011).
Überflüssig zu sagen, dass es natürlich auch reichlich interessante neue Musik unabhängig vom Iran gab, nicht alles kann erwähnt werden. Vieles gelang in wunderbaren Interpretationen: so durch das Berliner Klaviertrio „Trio Boulanger“. Die drei Damen setzten zum wiederholten Mal einen kräftigen Akzent des Hamburger Festivals, spielten das 1984 entstandene Klavier-Trio von Mauricio Kagel, das kräftig und ironisch in der Gattungstradition rührt und eine Uraufführung von Jens Joneleit mit dem Titel „Talea“ (2011). Joneleits Musik hat räumlich und gestisch eine originelle persönliche Handschrift. Und ganz groß die deutsche Erstaufführung von „Luna Park“, ein Musiktheater von Georges Aperghis in der Wiedergabe durch das Pariser IRCAM. In vier mit allerlei Technik ausgestatteten Türmen entbrannten vier Musiker in einem Mix aus rasendem Tempo, Technologien, Realitäten und Virtualitäten ein spannendes und witziges Feuerwerk.
„Ich habe es satt, Konzerte für ein Spezialisten Publikum zu veranstalten. Musik ist Leben und muss lebendig sein“ hatte Christiane Leiste einmal in einem Interview gesagt. Dieses hat sie wieder mit großer Leidenschaft in die klingende Tat umgesetzt und die Zuschauerzahlen – diesmal etwa 2.000 – geben ihr Recht. Vielleicht merkt es ja auch einmal die Kulturpolitik.