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Eva Furrer von Klangforum Wien in Héctor Parras „Moins qu’un souffle, à peine un mouvement de l’air“. Foto: Petra Basche
Eva Furrer von Klangforum Wien in Héctor Parras „Moins qu’un souffle, à peine un mouvement de l’air“. Foto: Petra Basche
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Verwechslungen im Patchworkfestival: das Grazer „musikprotokoll“ unter dem Motto „Enharmony“

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Gegenläufig zu Entschleunigungstendenzen setzte das im „steirischen herbst“ eingebettete „musikprotokoll“ im zentral gelegenen, sympathischen Grazer „Cubus“-Dauerprovisorium auf die dichte Abfolge von Kurzeinheiten. Ein Kaleidoskop der Anregungen und Perspektiven verschiedenen Gewichts. Gramm-Formate waren auch dabei.

Christian Scheib, Chef des Radiosinfonieorchesters Wien, schon seit 1995 „mp“-Intendant (leider will er diesen Job nun beenden), operiert gern mit Gedankenspielereien. Diesmal kürte er die enharmonische Verwechslung zum überdachenden Thema, wegen ihrer aktuellen Mehrdeutigkeit günstig für Programmvariabilität.

Diesbezüglich herrschte 2012 mentale Nähe zum Donaueschinger Motto „analog – digital“. Beide Festivals eint ja geographisch der Donauraum. So könnte man überlegen, ob das sich bedingende Begriffspaar eher unter enharmonische Umdeutung programmatisch nutzbar wäre oder unter irgendwie erleichternde enharmonische Verwechslung. Ein Superfestival im ideellen Zusammenfluss von Donau und Mur, mit der bleibenden Erkenntnis, dass ein und dasselbe verschieden sein kann, je nachdem, was davor oder danach kommt. Wie praktisch!

Das „mp“ also ein selektiertes Patchwork, kurze, thematisch divergierende Zeiteinheiten. Ein voller Abend zur Orientierung: Das Klangforum Wien (Dirigent: Clement Power) spielt innerhalb von ca. 30 Minuten „Dort“ von Peter Jakober (UA), live-elektronisch modifizierte Ton- und Geräuschprozesse, klanglich wechselnde Stationen, lange Entwicklungsstränge führen zu bewährten Steigerungstopoi; und „Irrlicht“ von Eva Reiter (UA), detto mit Live-Elektronik, gezielt wahrnehmbare Anblasluft, fluktuierende Phasen flattern munter vorbei, unstet huschende Klanggebilde lassen vermuten, der Titel sei assoziativ.

Gleich dahinter die erstmalige Verleihung des Reinhard-Schulz-Preises für zeitgenössische Musikpublizistik an Patrick Hahn, eine gute Entscheidung der Jury, Hahn dankte tags darauf mit einer pointierten Lesung über enharmonische Verwechslungen. Nun geht es darum, den Preis zukünftig mittels der schon involvierten deutschen, österreichischen und schweizer Institutionen finanziell abzusichern.

Anschließend wieder das Klangforum mit Héctor Parras „Mois qu'un souffle, à peine un mouvement de l'air“ – kraftvolle, hell bohrende Musik, die Soloflöte verkörpert ein Frauenschicksal (man erinnert sich an Madernas Hyperion). Nachfolgend Kurzgeschichten aus „Unbestimmtheiten“ von John Cage, vorgetragen von Elke Tschaikner und Christian Scheib, Cage-Musik hineingemixt, zerlegt und umsortiert von DJ „dieb 13“. Schließlich ein paar Schritte in die Heilandskirche zu Daniel Lerchers elektronischer „missa brevis“, ein Teppich sehr langer Dauern schaukelt sich auf zu Klangsäulen.

Zehn in den Gesamtablauf gestreute Mini-Lectures oder Essays querfeldein über die Möglichkeiten der Bedeutung von Musik und die Arten des Musikhörens, nachbarlicher Musikaustausch, Installationen, Präsentation multimedialer Versuche, Verkoppelung von Mensch und Maschine (eine schon im vergangenen Jahrhundert untersuchte Symbiose), Medienkunst und Medienpluralismus. Und damit sind wir parallel wieder in Donaueschingen. Visualisierung des Klanglichen, elektronisch manipulierte Musik, von der Unterhaltungsindustrie gelieferte Geräte und Samples, allerdings unreflektiert verarbeitet. In diesen Bereichen verkümmert einstweilen die Musik. Ahnungsvoll warnte Armin Köhler im Donaueschinger Programmbuch vor vorschnellen Wertungen. Wären diese noch vorschnell? Obwohl das „mp“ strukturell Platz für derlei Nischen bietet, stellt sich die Frage, ob Festivals der Tummelplatz für technisch dominierte Versuche sein müssen. Auch ein Kenner der Szene wie der effiziente Musiktage-Aktionist Johannes Kreidler, übrigens auch bei „Wien modern“ zu Wort gekommen, befand im Gespräch den Level der Medienkomposition als zu dürftig.

Noch einiges aus dem vielfältig sortierten Gemischtwarenangebot: das Arditti-Quartett spielte in zwei Tranchen: „Fletch“ von Rebecca Saunders (UA), akzentuiert auffahrend, dann murmelnd in die Tiefe sinkend; 1. Streichquartett von Peter Jakober, die am Bühnenrand sitzenden Musiker spielen zwecks Koordination diverser Tempi mit Kopfhörern, ein Zentralton umfängt, umwebt kleinstintervallige Auffächerungen. Dazwischen eine Recherche über die Pfeifsprache (El Silbo) auf der Insel La Gomera, sozusagen ein Weltkulturerbe-Intermezzo.

Außerdem das Grazer Ensemble Zeitfluss (Leitung Edo Micic) mit: „Territory Matters“ von Thomas Amann (UA), energisch nervös zupackende Momentaufnahmen; dem revidierten Allusionsstück „music box – selbstportrait mit ligeti und strawinsky (und messiaen ist auch dabei)“ von Marko Nikodijevic, mehrheitlich witzige Tour de Force in reziproker Gestik der Zitierten; der ziemlich eigenständigen Befindlichkeit „...sotto i sassi...“ (Christian Klein), dort dürfte es sehr still sein, Erstickungsgefahr, vergebliches Aufbäumen, erst gegen Ende gelingt Befreiung.

Einigermaßen tröstlich: aus dem Schwabbelmeer des kompositiorisch Austauschbaren schält sich dann und wann die Individualität einer Musiksprache Aufmerksamkeit erregend heraus.

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