Apart geschichtsbeladen: Oper in Paris ist in besonderer Weise von Geschichte geprägt oder – bei kritischer Betrachtung – historisch kontaminiert. Damit muss sich – in Reflexion oder vorsätzlicher Abschottung – im Grunde jede neue Produktion auseinandersetzen, zumal wenn sie auf den lokalen Fundus eines ferngerückten Jahrhunderts zurückgreift.
Im altehrwürdigen Palais Garnier, seit 1875 das Haus der großen Oper in Paris (das seit zwei Dutzend Jahren ergänzt wird von der neuen Opéra Bastille), hat der Directeur général Nicolas Joel die in französischer Version 1776 in Paris uraufgeführte „Alceste“ von Christoph Willibald Gluck anberaumt. Auf der Agenda des Opernbetriebs steht jetzt der 300. Geburtstag Glucks, der in einem Dorf bei Neumarkt (Oberpfalz) zur Welt kam und sich früh nach Wien durchschlug. Anders als bei den „musikalischen Jahresregenten“ des Jahres 2013 könnte sich hinsichtlich dieses Komponisten und Regisseurs ein inhaltlicher Diskurs um Rang und Bedeutung des Werks geben: Die Frage ist, wie Gluck, der keine unmittelbaren Nachfolger fand, dennoch zum großen Reformator des Musiktheaters stilisiert werden konnte („Reformatoren“ müssen kirchen- oder schulbildend sein!). Einfach als „Revolutionär“ anzusehen ist Gluck allerdings auch nicht – er bediente zeitlebens Hofopern und starb eineinhalb Jahre vorm Ausbruch der französischen Revolution. Dennoch gibt es gute Gründe, diesem Künstler, der einen gesamtkünstlerischen Ansatz für die Oper verfocht, „revolutionäre“ Bedeutung zuzumessen – wie dem um eine halbe Generation jüngeren Joseph Haydn. Beide entwickelten eine Modernität, die über ihre Zeit hinauswies.
Ein Sorgenkind: An kein anderes Werk vergoss Gluck so viel Herzblut wie an „Alceste“ – das antike Sujet von der emphatischen Gattenliebe und der Selbstaufopferung der Partner beschäftigte den Komponisten viele Jahre. Die Tragedia messa in musica mit dem Texte von Ranieri de’ Calzabigi kam in der italienischen Originalfassung 1767 am Burgtheater in Wien heraus, elf Jahre später die im Sinn des Reform-Ansatzes stark überarbeitete französische Version. Für Paris löste Gluck die starre Folge von Secco-Rezitativen und Arien auf und wob ein „dichtes Seelendrama“ (dies Verfahren wurde für die Oper des 19. Jahrhunderts richtungsweisend). Er verbannte das „Barocke“ aus seiner Partitur und wollte dem Pariser Publikum die obligaten Ballette verweigern (er konnte sich an diesem Punkt allerdings nicht durchsetzen – es wurden sechs Tanzsätze des Gluck stilistisch nahestehenden François-Joseph Gossec angefügt).
Eine Mittelstellung: Die Tragédie-opera „Alceste“ kam in den letzten zwei Jahrzehnten verschiedentlich auf die Spielpläne – in Amsterdam z.B. durch Pierre Audi (1999), in Stuttgart durch Jossi Wielers Transposition ins Sektenmilieu (2006) und zwei Premieren 2010: die von Christof Loy beim Festival in Aix-en-Provence sowie der Staatsoper Wien (in einem Schulzimmer) und die von Peter Konwitschny in Leipzig (halb antikisierend auf einem Brünnhildenfelsen und ausgleitend in eine absichtsvoll dilettantische TV-Show). Das ist in Summe nicht viel, aber eben auch nicht wenig und deutet den ambivalenten Rang an, den Glucks Werk derzeit in der Rezeptionsgeschichte einnimmt.
Gluck aujourd’hui? Fern gerückt ist unserer Gegenwart der Opfergedanke, den die königliche Titelheldin aus Pherä, dem prähistorischen Thessalien, zum Entsetzen von Familie und Volk in die Tat umsetzt. „Alceste“, die als „drame larmoyant“ das Publikum im späten 18. Jahrhundert zu Tränen rührte, lässt sich heute auf stimmige Weise kaum „aktualisieren“ und wäre z.B. als Erzählung einer Geschichte von Organspende ganz unzulänglich transponiert. Olivier Py, derzeit der tonangebende französische Opernregisseur, erwies der Musik in hohem Maß Reverenz und ließ sie sie mit Hilfe von klassizistischem Rampentheater ihre milden und elegischen Wirkungen entfalten: Die übertriebenen Gesten, die der frühe Stummfilm vom Musiktheater ererbte, kehrten mit emphatischem Ernst wieder und würden im Sprechtheater wie im Kino mit dröhnendem Gelächter quittiert – dem Opernpublikum scheinen sie unverdrossen zumutbar (was eine Menge über dessen Bewusstseinsstand aussagt). Gleichzeitig sorgte Py für permanente Geschäftigkeit auf der Bühne, als vertraue er der tragenden Wirkung dieser Musik doch nicht so recht.
Ein Nacht- und Schattenstück: Der Ausstatter Pierre-André Weitz hat der neuen Pariser „Alceste“ eine Bildwelt ganz in Schwarz-Weiß zugedacht und ein Konzept der mobilen Entstehung der wechselnden Bildelemente: Fünf Maler, wahre Virtuosen ihres Metiers, beschäftigen sich von Anfang bis Ende damit, durch Kreidezeichnungen auf großen schwarzen Flächen die Handlung und deren Historizität (mitsamt der des Gluckschen Musiktheaters) durch feine Lineaturen zu kommentieren. Damit folgten Py und Weitz einer Idee, die Pierre Boulez bereits 1969 laut hinausgedacht hat: „In Jean Genets Stück ‚Wände überall‘ gibt es eine sehr eindrucksvolle Szene, in der die Algerier die Franzosen beschimpfen, aber nicht mehr in Worten. Sie zeichnen die Beschimpfungen auf die Wände. Am Ende dieser Szene ist das Bühnenbild fertig. Sehen Sie, das ist eine Aktion, die zu gleicher Zeit die technischen Aspekte der Bühne verwendet. Dieser Einfall hat eine unglaubliche Ausdruckskraft.“
Bildgenese aus tausend Strichen: Den Anfang der quicklebendigen Ankreidekünste im Palais Garnier macht ein großes Tableau mit dem Gehäuse der Aufführung – die Riesenskizze des alten Hauses der Grande Opéra entsteht, gesehen vom Boulevard de Capucines aus, mitsamt den Kunstheiligenfiguren an der Fassade in einer Geschwindigkeit, die dem Tonsatz zunächst gänzlich abgeht. Dann entsteht ein historisches Hafen-Ensemble vor den Augen der Zuschauer als Chiffre für die „Überfahrt“ zum Hades, auch ein Wald, ein Totenkopf, ein apokalyptischer Reiter – und indem die Kreide auch immer wieder ausgewischt wird, eine feine Nuancierung von Grautönen. Sie grundieren die dekorativen mobilen Treppengebilde, die sich zum Krankenbett des Admetes gesellen.
Rege Geschäftigkeit: Es ist also durchweg etwas los rings um den Gesang, für den, die große Aufopferung der Alceste intensivierend, Sophie Koch in der riesigen Halle ihre nicht allzu große Mezzo-Stimme einsetzt – nicht frei zunächst von gewissen Mühen, die der Ort bereitet, diese auf die musikdramatischen Repräsentationsdimensionen des späten 19. Jahrhunderts ausgelegte Immobilie. Aber im Sinne des „drame larmoyant“ leistet sie, auch darstellerisch, vorzügliche Arbeit. Yann Beuron als der zunächst im Sterben liegende königliche Gatte Admète profiliert sich ohne alle Tenor-Allüren mit einer frappierenden Annäherung an das Ideal des „natürlichen“ Gesangs (wobei diese Idee in einem Opernhaus wie dem Palais Garnier wie der lebhafteste Widerspruch erscheinen muss). Franck Ferrari, der Held Herkules, tritt wie ein routinierter Politiker von heute ans Rednerpult und schlägt nur mit der Keule seiner Stimme zu – mit prächtiger Wucht. Marc Minkowskis Musiciens du Louvre Grenoble leisteten sich ein paar handfeste Schnitzer, aber das mag sogar noch unterstreichen, dass die Musik lebendig ist.
Neues Glück also mit dem alten Gluck? Die Pariser Opéra hat zum Auftakt der Jubiläen eine optisch spektakuläre „Alceste“ bekommen, deren fünf Kreideschnellzeichner mit ihrer antiquierten Maltechnik noch lange in Erinnerung bleiben könnten – eine Aufführungs-Serie, die unter Beweis stellt, was sich in Zeiten des gesteigerten Unterhaltungsbedürfnisses selbst mit Gluck anstellen lässt, wenn der Pionier des Psychologischen im Musiktheater mit heiterer französischer Leichtigkeit ebenso ignoriert wird wie heutige Fragen nach Menschenopfer und Selbstaufopferung.
… und noch ein Triumph nostalgischer Bilder: Zeitlich fiel die „Alceste“-Premiere in Paris zusammen mit der Reaktivierung der gleichfalls höchst dekorativen und mit starken Nostalgie-Potentialen genährten Produktion von Leoš Janáčeks „Vec Makropoulos“. Krzysztof Warlikowski hat sie zu einer Kooperation mit dem noch von Gérard Mortier geleiteten Teatro Real in Madrid an der Place de la Bastille beigesteuert und aufgerüstet mit Zitaten aus der Geschichte Hollywoods (vornan mit King-Kong und Marilyn Monroe als Inbegriff der am Starrummel leidenden Diva, die öffentliche Bewunderung dennoch als Lebenselixier benötigt wie die Luft zum atmen). Susanna Mälkki dirigierte die Neuauflage mit bemerkenswerter Klarheit und Entschiedenheit. Die zentrale Partie der Emilia Marty, Else Müller, Elena Makropoulos etc. bestritt nun Ricarda Merbeth (Angela Denoke ersetzend) grandios. Doch auch „Die Sache Makropoulos“ erschien bestenfalls als einigermaßen gelungen museales Remake.
Muff und Mief: So hat die Pariser Oper die neue Saison mit zwei Produktionen eröffnet, in denen alte Zeiten in besonderer Weise Thema sind und die einen exemplarischen Umgang mit den Kontingenten des Historischen demonstrieren. Die beiden Premieren, ohne Einschränkung beklatscht, riefen in Erinnerung, was Pierre Boulez bereits 1967 in einem legendären „Spiegel“-Interview hinsichtlich der Musealisierung des Musiktheaters im allgemeinen und in der französischen Hauptstadt im Besonderen beklagte: „Das Opernpublikum ist ein Kapitel für sich selbst. Ich will damit sagen, die Oper ist mit einem muffigen Schrank zu vergleichen. […] In der Provinzstadt Paris ist das Museum sehr schlecht gepflegt. Das Pariser Opernhaus ist voller Staub und Scheiße – um gut deutsch zu sprechen.“ (Man müsste jetzt anständigerweise von edel parfümiertem Stuhlgang sprechen).
Vielleicht ist das nun wieder das Schicksal des Musiktheaters in den europäischen Metropolen – an der Wiener Staatsoper ohnedies und in London oder Brüssel auch (die drei Berliner Häuser sind, sofern sie dort früher mitspielten, aus der Champions League abgestiegen und können in internationalem Vergleich seit geraumer Zeit nicht mehr berücksichtigt werden). Überall jedenfalls besteht große Zurückhaltung gegenüber dem Lüften.