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Neue Musik-Zeitung - Vor 100 Jahren

Neue Musik-Zeitung – Vor 100 Jahren 

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Vor 100 Jahren: Bayreuth und wir

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Robert Hernried, Neue Musik-Zeitung, 45. Jg., August 1924, Heft 1
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Nach zehnjähriger Ruhe hat das Bayreuther Festspielhaus in diesem Jahre von neuem seine Pforten geöffnet. Sicherlich waren große und aufopfernde Bemühungen gar vieler […] nötig, um die finanziellen Vorbedingungen für eine Wiederaufnahme der Festvorstellungen zu schaffen. Das nimmt nicht weiter wunder. Denn ein so ungeheures Ereignis wie der Weltkrieg mußte notgedrungen, parallel zu den Umwälzungen im politischen und wirtschaftlichen Leben, auch eine solche im Bereiche aller Künste hervorbringen. Strömungen mußten entstehen, Ziele sichtbar werden, die sich von dem, was in der Vorkriegszeit Geltung hatte, nicht nur entfernten, sondern vielmehr Gegenpole zu ihm darstellen. 

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Ein Gedanke aber wie der der Bayreuther Festspiele muß, soll er in seinem Kern erfaßt werden, nicht vom Standpunkte irgend einer künstlerischen Gruppe aus betrachtet werden. Es gilt vielmehr zu prüfen, ob der Gedanke überhaupt noch lebensfähig ist. Zu diesem Zwecke aber ist die Idee von allen ihr durch menschliches Treiben angehefteten Schlacken zu reinigen und in ihrem Kern klarzulegen. Und wo könnte man größere Klarheit über die Idee der Bayreuther Festspiele gewinnen als in den Schriften Richard Wagners?! In seinem Briefe „An die geehrten Vorstände der Richard Wagner-Vereine“ hat Wagner mit aller Klarheit die beiden Leitgedanken niedergelegt, die ihn beseelten. Ihm schwebten vor: „Die Begründung eines neuen Stils und die Bildung der ‚,einzig wirksamen Hochschule für dramatisch-musikalische Darstellung‘. 

Finden wir dieses Programm Wagners (geschrieben am Neujahrstage des Jahres 1877) in den „Bayreuther Blättern“, so enthalten diese, und zwar im Jahre darauf, nicht mißzuverstehende „Ausführungsbestimmungen“ des Meisters. Denn als anzustrebendes Ziel gibt er kund: „Unter der Anleitung eines spezifischen Gesangslehrers sollen von Sängern und Sängerinnen alle guten dramatischen Werke vorzüglich deutscher Meister nach meinen besonderen Angaben hiefür eingeübt und zum Vortrag gebracht werden.“ (Siehe Gesammelte Schriften, „Entwurf, veröffentlicht mit Statuten des Patronatsvereins“). Diese Verdeutlichung dessen, was ihm vorschwebte, ist von doppelter Bedeutung; denn Wagner widerlegt durch diesen großzügigen Plan nicht nur diejenigen, welche glaubten, er verstehe unter dem ,,neuen Stil“, den er begründen wolle, einen speziell aus seinen Werken geschöpften und nur für diese passenden Stil, sondern er weist damit auch die Mißdeutung seines zweiten Leitgedankens zurück, den man als von Wagner beabsichtigte Gründung einer wirklichen ,,Schule“ der Bühnenkunst fälschlich ausgedeutet hatte. Er rückt dieser Verkennung seiner Absichten des weiteren in den „Bayreuther Blättern“ scharf an den Leib, indem er ausführlich schildert, welch negative Erfahrungen in bezug auf die Kunst, den Stil bedeutender Tonschöpfungen zu treffen, er an keineswegs unbedeutenden deutschen Bühnen gemacht habe, und fährt fort: „Auf diese Belehrung hin kam es mir aber keineswegs in den Sinn, eine ,Schule‘ zu gründen, sondern eben Übungen und Aufführungen anzuleiten, durch welche ich selbst mit meinen jüngeren Freunden erst dazu gelangen wollte, über das rechte Zeitmaß und den richtigen Vortrag unserer großen Meister uns zu verständigen sowie durch diese Verständigung ein klares Bewußtsein zu begründen.“ 

Von einer Theater-Schule ist also nicht die Rede, ebensowenig von einem eigenen, lediglich aus den Wagnerschen Werken geschöpften und ausschließlich für diese bestimmten Stil. Wagner mußte als schaffender Künstler (und als einer, der an seine Mission glaubte) naturgemäß mit seinen eigenen Werken beginnen. Standen diese doch zur Zeit der ersten Bayreuther Aufführungen keineswegs als gefestigter Besitz der deutschen Nation da, sondern waren trotz der immer mehr wachsenden Schar der Anhänger noch hart umstritten. Vielen mag es dünken, daß er bei dieser Handlungsweise egozentrisch eingestellt gewesen sei. Selbst wenn dies der Fall war, ist sein Vorgehen, sein Verzicht darauf, mit Bühnenwerken verschiedener Meister zu beginnen, doch von einem anderen Standpunkt aus zu rechtfertigen: denn sein Werk war für die Mitwelt das sowohl in den Dimensionen als in bezug auf Inanspruchnahme von Schwesterkünsten und technischen Behelfen anspruchsvollste. Der Architektur und Malerei, der Maschinen-und Beleuchtungstechnik waren bislang noch nie ähnliche Aufgaben gestellt worden, desgleichen den Sängern, dem Orchester und dem Publikum, und so war der Schluß (nicht nur für Wagner selbst) naheliegend, daß sein Kunstwerk das höchste Maß von Schwierigkeiten in sich vereine. Waren diese bewältigt und hatten sich künstlerische und technische Helfer, die Künstler auf der Bühne und im Orchester sowie die Zuhörer (und Zuschauer) selbst an die ihnen von dem Meister gestellte Aufgabe gewöhnt, so durfte man glauben, der Schwierigkeiten, die zeitlich voranliegende Kunstwerke ihrem Wiedererstehen im neuen Stile boten, unschwer Herr werden zu können. […]

Zweiundfünfzig Jahre sind es her, seit die Grundsteinlegung zum Bayreuther Festspielhaus erfolgte, achtundvierzig Jahre, seitdem (am 13. August 1870) die Festspiele ihren Anfang nahmen. Ja selbst seit der denkwürdigen Uraufführung des „Parsifal“ sind zweiundvierzig Jahre verstrichen. Auch ohne das unerhörte Ereignis des Weltkrieges, das eine Umwertung aller Werte schuf, muß natürlicherweise das, was in jener Zeit als das Fortschrittlichste galt, heute bereits als historisch anmuten, muß damals neu Errungenes als Tradition erscheinen, müssen neue Ziele sich bieten, ein neuer Kunststil in Sicht kommen, der, unter Verwendung der Errungenschaften, die wir Wagner verdanken, dennoch andere Ziele vor Augen hat. Dennoch aber erscheint das Werk des Bayreuther Meisters uns noch immer nicht ganz in historische Perspektive gerückt und die Macht seiner Wirkung ist so groß, daß sie sich nicht nur in einem guten Teil der heutigen Produktion noch fühlbar macht, sondern auch, ähnlich wie zu Lebzeiten des Meisters, aktive Gegnerschaft auslöst. Dem historisch Denkenden wird das keineswegs sonderbar erscheinen, da das umstrittene Neue stets – natürlich, soweit es sich als wirklich wertvoll erwies – zum Glaubensbekenntnis der darauffolgenden Zeitperiode wird, der übernächsten und somit auch den von ihr ausgehenden Kunstzielen aber gegensätzlich zu erscheinen pflegt.

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Robert Hernried, Neue Musik-Zeitung, 45. Jg., August 1924, Heft 1

Robert Hernried, Neue Musik-Zeitung, 45. Jg., August 1924, Heft 1

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Das Kunststreben unserer Zeit ist sehr von Wagner abgerückt. Wohl hat es zuerst von ihm teils ausgehende, teils geförderte Bestrebungen zur letzten Konsequenz entwickelt, wie die Verknüpfung des malerischen Momentes mit der Musik, die Reform des Bühnenbildes und der Bühnentechnik u. a. Aber indem es bis zur letzten Konsequenz fortschritt, überwand es auch den Fragestoff der Probleme. Es mußte sie auch überwinden, weil es auf manchen Gebieten ein Übertrumpfen Wagners nicht mehr zu geben schien. So wandte sich das Zeitstreben Zielen zu, die aus dem Bestreben, klanglich Neues zu bieten, erwuchsen, zugleich aber auch ältere Stilarten, ältere Formen, bewußt heranführten und sie mit dem Geiste unserer Zeit zu erfüllen trachteten. Das ist wohl nur auf dem Gebiete der konzertanten Musik zu einem gewissen Grade geglückt, nicht aber auf dem der theatralischen. Denn dem Pathetischen ist unsere Zeit abhold, zugleich aber auch kaum fähig, sich zum Verzicht auf dessen szenenbelebende Auswirkungen aufzuschwingen. Die Groteske aber, zu der das heutige Bühnenschaffen (Busoni: Arlecchino, Krenek: Der Sprung über den Schatten) Ansätze zeigt, kann in ihrer Kälte dem Sehnen nach wirklicher oder vorgetäuschter Erhebung, das die Mehrzahl aller Theaterbesucher erfüllt, keinen Ersatz bieten. 

Aus dieser Erscheinung, oder besser, aus dem Nichterscheinen einer neuen theatralischen Anziehung (mit Ausnahme von Richard Strauß, der aber Wagner fortsetzt, nicht ihm Abgewandtes schafft) ist es zu er klären, daß wir Wagners Kunstwerk weder als zeitgemäß noch als rein historisch betrachten können. Wäre das letztere der Fall, so würden wir ihm kühler gegenüberstehen und gelegentliche Aufführungen würden genügen, Und das erstere erfolgt nur im Gehirn der Leute, die den Kunstereignissen zwanzig Jahre nach hinken. (Aber auch diese besuchen heute schon Wagner Opern mit derselben, rein unterhaltungsmäßigen Einstellung, wie wir vor zwanzig Jahren „Manon“, „Mignon“ und „Margarethe“ besuchten.)

Wenn nun Bayreuth mit einer unglaublich anmutenden Naivität die zehn Jahre unterbrochen gewesenen Festaufführungen ausschließlich mit Wagnerschen Werken wieder aufnimmt, so erfüllt es weder eine historische Mission (denn es gilt ja nicht, ,,auszugraben“ oder Verschollenes neu zu beleben), noch ficht es für ein aufstrebendes Neues. Vielmehr entfernt es sich pietätlos von dem Gründungsgedanken seines Schöpfers Richard Wagner, der ja ,,alle guten dramatischen Werke vorzüglich deutscher Meister“ in Musteraufführungen in Bayreuth dargestellt wissen wollte. Daß die Erben Wagners von dessen Tode (1883) bis zum Ausbruche des Weltkrieges diesen von Richard Wagner selbst gewiesenen Weg nicht beschritten, wiegt minder schwer, als daß sie ihn auch heute, da die Welt in zehn Jahren um dreißig gealtert ist, nicht beschreiten. Die ungeheure Werbekraft des Gedanken, mustergültige Aufführungen der großen Meister aller Zeiten auf einer Bühne zu bieten, die über die letzten technischen Errungenschaften verfügt, mit Künstlern, die als Elite zu gelten haben, vor einer Hörerschar, die, fern den Tagesgeschäften, einzig dem Aufnehmen des Kunstwerkes sich zu weihen gewillt ist – die Werbekraft dieses Gedankens muß Bayreuth so einbüßen.

Und mögen auch alle Festvorstellungen ausverkauft sein, besucht teils von Freunden, teils von Sensationshungrigen, so wird doch Bayreuth seine Mission, Anreger und Beispielgeber zu sein, nicht eher erfüllen, als bis es den Weisungen seines Schöpfers folgen wird. 

Robert Hernried, Neue Musik-Zeitung, 45. Jg., August 1924, Heft 1

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