Vor 175 Jahren, am 21.März 1839, trat Franz Schuberts Große Sinfonie in C-Dur im Saal des Leipziger Gewandhauses ins Licht der Musikgeschichte, knapp elf Jahre nach dem Tod des Komponisten am 19. November 1828. Das Werk war von einem anderen Großen der Musik, der damals in Leipzig im Haus 454 am Brühl lebte, aufgespürt worden: Robert Schumann (1810–1856). Mit der Entdeckung der Sinfonie durch ihn war der Superlativ aber immer noch nicht erreicht. Das gelang erst Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847). Der Kapellmeister des Gewandhausorchesters adelte mit der von ihm geleiteten Uraufführung die Sinfonie. Indes: Außer in Leipzig war in anderen Städten das Schicksal diesem Werk zunächst nicht wohl gesonnen.
Eine abenteuerliche und verworrene Geschichte
Und das ist dessen nicht nur abenteuerliche, sondern auch verworrene Geschichte: Während seines Wien-Aufenthalts im Winterhalbjahr 1838/39 suchte Schumann am Neujahrstag Franz Schuberts Bruder Ferdinand (1794-1859) in dessen Wohnung in der Kettenbrückengasse 6 auf. Bei dieser Gelegenheit präsentierte dieser seinem Gast den musikalischen Nachlass des Komponisten, der in diesem Haus starb (heute eine Gedenkstätte). „Der Reichtum, der hier aufgehäuft lag, machte mich freudeschauernd; wo zuerst hingreifen, aufhören?“, erinnerte sich Schumann ein Jahr später in der von ihm herausgegebenen „Neuen Zeitschrift für Musik“. Mit Kennerblick studierte er vor allem das Wunderwerk des Verstorbenen, das Manuskript der melodienreichen Großen Sinfonie.
Als nach Schuberts Tod sein Vermögen staatlicherseits geschätzt werden sollte, stellte der zuständige Beamte fest: „Außer einigen alten Noten im Wert von zehn Gulden hat Schubert nichts hinterlassen." Zu diesen „alten Noten‘“ gehörte auch die Originalpartitur der Großen Sinfonie, deren Wert heute bei etwa einer Million Euro liegt. Die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien bewahrt das Juwel auf.
Schumann riet seinem Gastgeber, das Werk Mendelssohn Bartholdy anzuvertrauen, „dessen feinem Blicke ja kaum schüchtern aufknospende Schönheit entgeht, geschweige denn so offenkundige, meisterhaft strahlende.“ Ferdinand Schubert ging glücklicherweise auf den Vorschlag ein und übersandte eine Kopie nach Leipzig. Aus einem Schreiben Mendelssohns an ihn geht hervor, dass die Leipziger diese geniale Schöpfung „mit sehr rauschendem Beifall“ aufgenommen hätten. „Alle Musiker des Orchesters waren ergriffen und entzückt von dem vortrefflichen Werk.“ Der Kapellmeister kündigte an, in der nächsten Saison die Sinfonie noch einmal aufzuführen. Er hielt Wort: Die Große Sinfonie erklang nochmals im März 1840 in Anwesenheit von Franz Liszt.
Schumann, der am Tag der Weltpremiere noch in Wien geweilt hatte, hörte das Werk erst später bei einer Probe im Gewandhaus. Sein Urteil: „Die Symphonie kam an, wurde gehört, verstanden, wieder gehört und freudig, beinahe allgemein bewundert.“ Das opus, das etwa fünfzig Minuten dauert, steckt laut Schumann voll „himmlischer Längen, wie ein dicker Roman in vier Bänden etwa von Jean Paul“. Besonders eine Passage im zweiten Satz hatte es ihm angetan: „...da wo ein Horn wie aus der Ferne ruft, das scheint mir aus anderen Sphären herabgekommen zu sein. Hier lauscht auch alles, als ob ein himmlischer Gast im Orchester herumschliche.“ Vielleicht war dieser himmlische Abgesandte Schubert, dem es zu Lebzeiten nicht vergönnt war, dieses mächtige Werk zu hören.
Während die Große Sinfonie in der Stadt an der Pleiße den Höhepunkt der Saison markierte, stieß sie andernorts auf wenig Widerhall. In Wien beging die Gesellschaft der Musikfreunde die Barbarei, bei der Aufführung am 15. Dezember desselben Jahres, nur die ersten beiden Sätze zu spielen, wobei diese noch durch eine Arie aus Donizettis „Lucia di Lammermoor“ auseinandergerissen wurden. Die Presse reagierte ungnädig. In London und Paris lehnte man die Sinfonie 1842 und 1844 sogar als „zu lang und zu schwierig“ ab. Tatsache ist, dass die Orchester bis zum Ende des 19. Jahrhunderts der Sinfonie äußerst reserviert, wenn nicht sogar ablehnend, wie die Wiener Philharmoniker noch im Jahr 1890, gegenüberstanden.
Mit der Uraufführung der Großen Sinfonie präsentierte das Gewandhausorchester nicht zum ersten Mal der Musikwelt ein bedeutendes Werk. Eine kleine Auswahl: Am 28. November 1811 war es Beethovens berühmtes 5. Klavierkonzert in Es-Dur. Der mit dem Titanen verbundene Verlag Breitkopf & Härtel hatte das Werk soeben herausgegeben. Solist war der Dessauer Pianist Friedrich Schneider. Das Konzert war von Beginn an ein großer Erfolg. Das Gleiche galt auch für Mendelssohns 3. Sinfonie („Schottische“) und sein Violinkonzert, die am 3. März 1842 beziehungsweise am 13. März 1845 in Leipzig das Licht der Musikwelt erblickten. Und der Start ins Jahr 1879 konnte für die Leipziger nicht schöner beginnen: Ihr Orchester bot ihnen während des traditionellen Neujahrskonzerts in einer historischen Weltpremiere das berühmt gewordene Violinkonzert in D-Dur op. 77 von Johannes Brahms (1833–1897).
Tohuwabohu – Sinfoniejagd
Die Uraufführung der Großen Sinfonie löste ein großes Tohuwabohu aus. Denn nun kam das Gerücht auf, Schubert habe auch eine „Gmunden-Gasteiner-Sinfonie“ komponiert. In einem Nekrolog hatte Schuberts Freund, der Schriftsteller und Lustspielautor Eduard von Bauernfeld (1802–1890) dies behauptet. Fortan geisterte das Phantom der „Gasteiner“ durch die Zeiten und es wurde unablässig bis in die jüngste Vergangenheit nach ihr gefahndet. Noch im „Handbuch der klassischen und romantischen Symphonie“, 1964 bei Breitkopf & Härtel in Wiesbaden erschienen, schrieb Rudolf Kloiber (1899–1973), die „Gmunden-Gasteiner“ sei „verschollen“ und drei Jahre später berichtete Kurt Pahlen (1907–2003) in seinem im Schweizer Verlagshaus Zürich erschienenen Buch „Sinfonie der Welt“, sie sei „verlorengegangen“. Im Reclams - Konzertführer, ebenfalls von 1967, erklärte Hans Renner (1901–1971) dann, die Große Sinfonie sei drei Jahre nach der „Gasteiner“ entstanden. Im offiziellen Deutsch-Verzeichnis der Schubert-Werke erhielt die nicht existierende „Gasteiner“ sogar die Werknummer D 849. Wenn auch unter großem Vorbehalt, wurde diese Nummerierung für die Ausgabe von 1978 übernommen. Doch just seit 1978 steht fest: Bei der ominösen „Gasteiner“ handelt es sich ohne Wenn und Aber um das von Schubert 1825 während eines Aufenthalts in Gmunden und Bad Gastein geschaffene Mammutwerk der Großen Sinfonie. Musikwissenschaftlern war es endlich anhand von Papieruntersuchungen und stilistischen Analysen der Sinfonie gelungen, diesen eindeutigen Beweis zu führen. Die Forscher hatten jahrzehntelang den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen.
Schon ein Jahr vor dem Sommerurlaub in Gastein hatte Schubert am 31. März seinem in Rom lebenden Freund, dem Maler Leopold Kupelwieser (1796–1862) in einem Brief mitgeteilt: „Das Neueste in Wien ist, daß Beethoven ein Concert gibt, in welchem er seine neue Sinfonie, drei Stücke aus der neuen Messe und eine neue Ouverture produciren läßt. Wenn Gott will, so bin ich auch gesonnen, künftiges Jahr ein ähnliches Concert zu geben.“ Schubert spielte damit auf die Uraufführungen von Beethovens Neunter, Teilen der Missa solemnis und der Ouvertüre „Weihe des Hauses“ am 7. Mai im Kärtnertor-Theater an. In einem anderen Brief an einen Freund wurde er sogar konkreter: Seine große Sinfonie sollte in C-Dur stehen.
Schubert widmete sie der Wiener Gesellschaft für Musikfreunde, die ihm dafür eine Ehrengabe von hundert Gulden überreichte. Der Eingang der Partitur wurde Ende des Jahres 1826 im Archivverzeichnis der Gesellschaft vermerkt, aber ohne nähere Angaben über die Tonart und die genaue Entstehungszeit. Doch die Gesellschaft sah sich genötigt, auf das Werk zu verzichten, da sie zum größten Teil nur auf Laienmusiker zurückgreifen konnte und die Sinfonie mit schwierigen Passagen gespickt ist. Der Schöpfer erhielt sein opus zurück, der Traum von einem großen Konzert war ausgeträumt. Schubert feilte jedoch noch weiter an der Sinfonie. Der handschriftliche Vermerk „März 1828“ auf dem Manuskript gab und gibt Rätsel auf, zumal er von fremder Hand stammt. Vermutlich hatte Schubert zu diesem Datum die Überarbeitung des Werks vollendet, was man dem potentiellen Verleger damit signalisieren wollte.
Ein ähnliches Schicksal war auch der 7. Sinfonie in h-Moll, der „Unvollendeten“ beschieden. Schubert hatte das Werk 1823 als Torso liegengelassen und Anselm Hüttenbrenner (1794–1868), dem Direktor des Steiermärkischen Musikvereins in Graz, als Dank für die Ernennung zum Ehrenmitglied geschenkt. Rätselhaft ist allerdings, dass er die Komposition „als eine meiner Sinfonien“ bezeichnete. Sah er die beiden Sätze gar als vollendet an? Hüttenbrenner bewahrte das Werk wie einen Staatsschatz auf und lüftete das Geheimnis erst 1865. Am 17. Dezember desselben Jahres wurde die Sinfonie durch die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien uraufgeführt.
Nie gehört
Im Gegensatz zu Mozart und Beethoven konnte sich Schubert an seinen Sinfonien weder als Dirigent oder Zuhörer im Konzertsaal erfreuen. Für die Allgemeinheit existierten sie zu seinen Lebzeiten überhaupt nicht. Die erste Sinfonie in D-Dur schrieb er als 16-Jähriger im Wiener Stadtkonvikt, das über ein eigenes Orchester gebot. Dieses dürfte die Sinfonie im kleinen Kreis uraufgeführt haben. Erst 1884 erschien sie bei Breitkopf & Härtel in Leipzig im Druck. Für die 1815 komponierte 2. Sinfonie in B-Dur fand er keinen Mäzen. Das Werk wurde erst am 27. Oktober 1877 im Kristallpalast in London uraufgeführt. Am selben Ort erlebte am 19. Februar 1881 seine 3. Sinfonie in D-Dur ihre Weltpremiere. Die Vierte in c-Moll, die sogenannte Tragische, hob die Leipziger Musikgesellschaft Euterpe an seinem 21. Todestag, dem 19. November 1849, aus der Taufe. Die Uraufführung seiner Fünften in B-Dur durfte Schubert 1816 im Haus des Burgtheatermusikers Otto Hadwig erleben. Die Sechste, die Kleine Sinfonie in C-Dur, wurde knapp einen Monat nach seinem Tod am 14. Dezember 1828 von der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien zu seinem Gedenken uraufgeführt.
Die Nummerierung der Sinfonien Schuberts sorgte in den vergangenen Jahrzehnten ebenfalls für großen Wirrwar. Um diesen nicht neu zu befeuern, soll klargestellt bleiben, die Große Sinfonie in C-Dur trägt die Nummer 8 und nicht die 7 oder 9. Die meisten Orchester haben allerdings einen Königsweg gefunden, sie kündigen sie in ihren Programmen nur als Große Sinfonie in C-Dur an. Es stimmt eben nicht immer der Lehrsatz des großen Pythagoras: „Die Zahl ist das Wesen aller Dinge.“