Demenzerkrankungen nehmen den Patienten einen Teil ihrer Würde und ihrer sozialen wie kulturellen Teilhabe. Die Kosten, die die Gesellschaft für Demenzerkrankte aufbringen muss, sind immens. Auf der Fachtagung „Musik und Demenz“ in Hamburg wurden Wege aufgezeigt, wie man mit musiktherapeutischen Ansätzen demenzielle Erkrankungen behandeln und in ihren Auswirkungen verbessern kann. Der Wunsch der Veranstalter ist es, dass diese Erkenntnisse nun auch ihren Weg in die Praxis finden.
Wege in die Praxis aufzeigen
Erschreckende Zahlen zu Beginn: Der Future Health Index 2014 postuliert, dass jeder fünfte Mensch weltweit im Laufe seines Lebens eine Form von Demenz entwickeln wird. 2014 gab es auf der Welt zirka 50 Millionen an Demenz erkrankte Menschen. Das Bundesgesundheitsblatt erklärte 2019 für Deutschland, dass sich die von der Gesellschaft jährlich aufzubringenden Kosten für Demenzerkrankungen auf etwa 50 Milliarden belaufen. Eine letzte schlechte Nachricht: demenzielle Erkrankungen sind mit Pharmazeutika nicht behandelbar.
Seit 2019 veranstaltet der Landesmusikrat in Hamburg eine Fachtagung „Musik und Demenz“. 2022 ist im Rahmen dieser Tagung die „Bundesinitiative Musik und Demenz“ erstmals an die Öffentlichkeit getreten, deren Ziel es ist, „Politik und Öffentlichkeit bewusst zu machen, welche Chancen und Potentiale Musik für Menschen mit Demenz bereithält“. Am 27. und 28. Oktober fand die Fachtagung zum vierten Mal in Hamburg statt.
Den die gesamte Tagung prägenden Eröffnungsvortrag „Heilsam, belebend, aktivierend – Was Musik bei Demenz bewirkt“ hielt der Neurowissenschaftler Stefan Kölsch von der Universität Bergen (Norwegen). „Forschungen belegen“, so Kölsch, „dass Demenz-Patienten eine erstaunliche Kapazität besitzen, Musik zu speichern und abzurufen. Sie können nicht nur neue Melodien erlernen und erkennen, sondern auch Unstimmigkeiten in vertrauten Liedern identifizieren, bekannte Lieder singen und gelegentlich neue Lieder aufnehmen. Besonders hervorzuheben ist der Nutzen von Musik für Patienten in fortgeschrittenen Stadien der Demenz: Sie wirkt beruhigend bei Desorientierung, fördert das Wiedererkennen von Pflegepersonal und mildert depressive Symptome, vor allem wenn die Betroffenen selbst musizieren.“
Kölsch berichtete über seine aktuellen Forschungen, die erstmals Hirnscans im Zusammenhang mit Musiktherapie bei Demenzpatienten einsetzen. In seiner Studie beobachtete er zwei Gruppen: die Mitglieder der einen Gruppe lernen Lieder und singen im Gedächtnischor, die der anderen nehmen an einem Programm mit körperlichen Aktivitäten teil. Bei Vermessungen des Hippocampus auf diesen Gehirnscans konnte festgestellt werden, dass Musiktherapie die Verringerung des Volumens des linken Hippocampus verlangsamen kann. Gleichzeitig kann sie die verbale episodische Erinnerung erweitern. Auch eine Verbesserung depressiver Symptome ist unter dem Einfluss von Musiktherapie zu beobachten, ebenso wie ein geringerer Verlust der unabhängigen Lebensfähigkeiten.
Aus all diesen Erkenntnissen schließt Kölsch, dass Musiktherapie eine „wirksame Intervention ist, die die Degeneration des Gehirns verlangsamt, die Lebensqualität erhöht und Individuen helfen kann, länger in der gewohnten häuslichen Umgebung zu verbleiben“. Dies betrifft zunächst nur das Einzelwesen, hilft aber letztlich auch dem Gemeinwesen. So könnte die Aufwendung eines minimalen Anteils der erwähnten 50 Milliarden Kosten für Demenzerkrankte ausreichen, um durch frühzeitige und dann im häuslichen Umfeld begleitende musiktherapeutische Interventionen die Gesamtkosten massiv zu verringern. Für die Umsetzung sind nun Politik und Krankenkassen gefragt.
Diese musiktherapeutischen Interventionen in ihrer Vielfalt zeigten die zahlreichen Workshops (z. B. „Heilsames Singen“, „Rhythmus schafft mehr als Bewegung“, „Tanzen im Sitzen“) und der vielfältige Austausch der Teilnehmenden untereinander. Einen weiteren Schwerpunkt bildete der Einsatz von Ehrenamtlichen in der musiktherapeutischen Pflege – dargestellt an Hamburgs ältester Stiftung, dem Hospital zum Heiligen Geist. Das vollständig unvorbereitete und improvisierte Abendkonzert „Musik – aus dem Moment geboren – in diesem Augenblick gehört“ mit dem „Genetic Choir Ensemble“ aus Amsterdam nahm die vielfältigen und vielgestaltigen Momente des vergangenen Tagungstages akustisch noch einmal auf. In der Deutschlandpremiere ihres Films „Beyond Words“ wurde deutlich, wie man mit diesem Konzept eine besondere Brücke zu Demenzkranken aufbauen kann.
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