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Titelbild  Vier Mitglieder des 22-köpfigen Ensembles Diwan der Kontinente:  Matthias Kurth (Oud), Ralf Schwarz (Kontrabass), Bassem Alkhouri (Kanun) und Ketan Bhatti (Schlagzeug) beim Jazzfest Berlin (Bericht auf Seite 23). Foto: Petra Basche
Titelbild Vier Mitglieder des 22-köpfigen Ensembles Diwan der Kontinente: Matthias Kurth (Oud), Ralf Schwarz (Kontrabass), Bassem Alkhouri (Kanun) und Ketan Bhatti (Schlagzeug) beim Jazzfest Berlin (Bericht auf Seite 23). Foto: Petra Basche
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Welche Lieder singt der multikulturelle Chor ?

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Die nmz befragte Musikverbände zum Thema flüchtende Menschen · Von Andreas Kolb
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Die Begegnungen, die jeder Einzelne mit in unser Land geflüchteten Menschen hat, sind ganz verschieden. Aber jeder hat sie. Dem Einen kommen Tag für Tag auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit 30 bis 40 Burschen mit Ringbüchern und Schulsachen in der Hand entgegen. Eine Andere hilft einmal die Woche bei der Essensausgabe in einer großen Erstaufnahmeeinrichtung.

Auf der Jahreskonferenz Musikland Niedersachsen vor wenigen Wochen erzählte der Opernsänger Mohsen Rashid­khan, wie ihm, nach mehreren erfolglosen Versuchen mittels Aushängen Chorsänger in einer Flüchtlingsunterkunft zu akquirieren, schließlich der Geduldsfaden riss und er sich eines Morgens an zentraler Stelle im Camp aufbaute und ganz einfach laut sang. Sein voller Bariton traf den Kern: Seit dieser Aktion ist er Leiter des etwa 30-köpfigen Flüchtlingschores Hannover.

Der Saxophonist Julian Schunter berichtete in der Novemberausgabe der nmz über seine Reise mit „Clowns ohne Grenzen“ nach Kenia, Jordanien und Israel. Was die Arbeit der Clowns bewirken kann, wird durch das Zitat eines Mitarbeiters einer Non Government Organisation im jordanischen Flüchtlingslager Za’atari deutlich: „Bevor ihr kamt, haben die Kinder Krieg gespielt. Jetzt spielen sie Clown.“ Noch einmal anders arbeitet die iranisch-deutsche Jazzsängerin Cymin Samawatie: Von Haus aus schon immer mit dem Thema der doppelten kulturellen Identität konfrontiert, reist sie als Kulturvermittlerin mit einem „Diwan der Kontinente“ durch die Konzertsäle und bereitet derzeit – eingeholt durch die Ereignisse dieses Sommers und Herbstes – bereits ein Programm für Flüchtlinge vor.

Allen genannten Personen ist eines gemeinsam: Die nach Europa und Deutschland flüch­tenden Menschen haben ihr Leben verändert. Die große humanitäre, politische und kulturelle Herausforderung macht vor unserem Musikleben nicht halt. Das zeigt sich auch auf der Homepage des MIZ-Musikinformationszentrums, wo inzwischen Hunderte von Projekten gelistet sind, die die Möglichkeiten der Musik für die Begegnung mit den Flüchtlingen nutzen. Und die Liste der Initiativen wird immer länger, sie reicht von Instrumentenspenden und kostenlosem Musikunterricht über gemeinsame Musizierprojekte und Konzerte für Flüchtlinge bis zu Benefizkonzerten und musiktherapeutischen Angeboten.

Auch die nmz-Redaktion hat die musikpolitische Dimension des Themas in den Fokus genommen und an Repräsentanten der großen Musikverbände des Landes folgende Frage gerichtet: „Wie wollen Sie in Ihrer Arbeit auf die Situation flüchtender Menschen eingehen – aktuell und in perspektivischer Sicht?“ Die Antworten finden Sie auf den Seiten 27 und 30: Sie erschöpfen sich beileibe nicht in bildungspolitischen Floskeln, sondern fallen vielfältiger und konkreter aus, als das vielleicht zu erwarten war. Der Verband deutscher Musikschulen kann von einer kaum noch zu bewältigenden, aber sehr ideenreichen Antragsflut für Projekte im Rahmen der Bündnisse für Bildung berichten. Der Deutsche Musikrat verweist auf die oben bereits erwähnte vorbildliche Plattform im Musikinformationszentrum und auf seine jüngste Resolution „Willkommen in Deutschland: Musik macht Heimat!“

Der Bundesverband Musikunterricht, der ja im Pflicht- und nicht im ehrenamtlichen Bereich tätig ist und dessen Klientel schon seit Beginn des Schuljahres mehr oder weniger gut vorbereitet als Lehrer vor Auffangklassen stehen muss, sieht seine Aufgabe im Bereich der Entwicklungsförderung, fordert aber auch eine adäquate, den Umständen angepasste Musiklehrerausbildung. Der DTKV wendet sich mit seinem Sprachförderwettbewerb „Singen mit Kuscheltieren“ 2016 gezielt an Kitas und andere Einrichtungen, die Kinder mit Integrationshintergrund betreuen.

Auch der Deutsche Chorverband hat möglicherweise schon die 130 Millionen Euro zusätzlicher Bildungsförderung durch die Forschungs- und Bildungsministerin Johanna Wanka vor Augen, wenn er einen Schwerpunkt auf die Sprachförderung legt. Zudem kann der DCV bereits nach wenigen Monaten auf viele konkrete Projekte seiner Mitgliedschöre verweisen. Der DCV fordert weiter eine nationale Bildungsallianz aller Protagonisten im Musikbereich sowie die dazu nötige Aufhebung des Kooperationsverbots zwischen Bund und Ländern. Die Jeunesses Musicales warnt vor „Schnellschuss-Projekten“ allein um der Öffentlichkeitswirksamkeit willen. Sie erinnert an ihre Kernidee, die Völkerverständigung, die nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges Anlass für junge Musiker war, sich in einem Verband zu organisieren. An diese Idee will man anknüpfen.

Viele der neu angestoßenen Projekte und Vorhaben sind kulturelle Erste-Hilfe-Maßnahmen. Natürlich gilt es, mit Kulturarbeit auch dem „Lagerkoller“ vorzubeugen. Dennoch kann man sich nicht damit zufrieden geben, mit Musik „die  Langeweile zu vertreiben“, wie dies schon in verunglückten Resolutionen zu lesen war.

Nehmen wir die zu uns kommenden Menschen ernst und begreifen sie nicht nur als Nutznießer von Asylrechten und potenzielle neue Fachkräfte, sondern auch als kulturelle Wesen, dann wissen wir, dass die Zugezogenen auch ihre Kulturen mit im Gepäck haben. Das kann uns bereichern, wie etwa beim Syrian Expat Philharmonic Orchestra in Bremen, das neben seinem Mozart auch Jazz und syrische Musik im Programm hat. Nachzuhören in der Sendung „taktlos – das Musikmagazin von Bayerischer Rundfunk und neuer musikzeitung“ (Ausgabe 182).

Konflikte sind jedoch vorprogrammiert: Ein vierstimmig gesetztes Weihnachtslied, „Hava Nagila“ oder „C-a-f-f-e-e, trink nicht so viel Caffee“ sind möglicherweise nicht das Richtige, um Muslimen die deutsche Sprache nahezubringen. Welche Lieder singen wir in diesem neuen multikulturellen Chor? Das Grundgesetz ist meines Wissens nach bisher noch nicht komplett vertont worden. Bleibt uns als kleinster gemeinsamer Kultur-Nenner nur die „Top 100 Hit Collection“, Band 1 bis 57?

Interkulturelle Unterrichtskonzepte sind zukünftig mehr denn je gefragt, gerade im Musikunterricht. Fest steht aber auch: Deutschland wird sich ändern, auch kulturell. Ob da der Rekurs aufs Grundgesetz, wie er von den meis­ten Politikern als ausreichend gesehen wird, genügt, oder ob die Debatten über neue Werte bereits begonnen haben, ist noch offen. „All diese Entwicklungen, all diese Fragen haben natürlich Auswirkungen auch auf die Freiheit der Kunstausübung“, sagt Ex-Innenminister Gerhart Baum in seinem Essay auf Seite 3. „Die Kunst, sie war immer schon global und auf Freiheit angelegt, sie war und ist grenzüberschreitend. Nutzen wir ihre Impulse – gerade jetzt.“ 

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