Der US-Amerikaner Robert Trevino (Jg. 1984) ist Chefdirigent des Basque National Orchestra, Künstlerischer Berater des Malmö Symphony Orchestra und Erster Gastdirigent des Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI. Kürzlich hat Trevino für Ondine einen Exklusivvertrag unterzeichnet. Bei diesem Label ist 2020 u.a. auch seine Einspielung aller Beethoven-Sinfonien mit dem Malmö Symphony Orchestra erschienen. Nun hat Trevino mit dem Basque National Orchestra ein neues Album für Ondine aufgenommen. Es trägt den Titel „Americascapes“ und bringt Orchesterwerke US-amerikanische Komponisten zu Gehör, die sowohl diesseits als auch jenseits des Großen Teichs bislang noch weitgehend unbekannt sind. Burkhard Schäfer sprach mit Robert Trevino über seine Leidenschaft für die vergessenen Pioniere der amerikanischen Kunstmusik.
Burkhard Schäfer: Herr Trevino, wie kam es zu dem Plan, dieses Album aufzunehmen?
Robert Trevino: Ich fange mal damit an, dass das Projekt schon länger in meinem Kopf herumspukte. In meiner Eigenschaft als Dirigent werde ich oft gefragt, ob ich nicht ein „All American“-Programm mit Gastorchestern präsentieren möchte. In der Regel antworte ich, dass ich das sehr gerne tun würde, solange wir uns von den üblichen Verdächtigen fernhalten und ein echtes künstlerisches Bild der amerikanischen Kompositionsszene der Gegenwart und der Vergangenheit vermitteln. Meine Version von „All American“ wird normalerweise abgelehnt, sodass wir mit einer Mahler- oder Bruckner-Symphonie enden. Das ist kein Problem, denn ich mag Mahler und Bruckner sehr, aber gelegentlich nimmt jemand meine Herausforderung an, und das ist für mich aufregend. Als ich mir also überlegte, amerikanische Musik aufzunehmen, wollte ich, dass sich diese allgemeine Philosophie durch die gesamte Aufnahme zieht, und zwar so sehr, dass das Ziel der Aufnahme zu meiner Herzenssache wurde. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich liebe eine gut dargebotene „Rhapsody in Blue“ von Gershwin genauso wie jeder andere, aber warum nicht zum Beispiel die Klavierkonzerte von Corigliano, Barber oder Copland?
Inwiefern hat die Corona-Pandemie in die Produktion dieses Albums mit hineingespielt?
Was Covid-19 betrifft, so mussten wir mit einem großen Abstand zwischen den Musikern aufnehmen, ich glaube, es waren damals 1,65 Meter, was die Sache sehr schwierig machte. Aber ich denke, die Ergebnisse sind trotzdem sehr gut. Es gab jedoch ein wirklich großes Problem während der Aufnahme, nämlich den Zustand des Materials für das Werk von Howard Hanson, es war einfach in einem absolut schrecklichen Zustand. Das Orchester und ich fühlten uns eher wie Archäologen, die nach einer verlorenen Stadt graben, als wie Musiker. Glücklicherweise waren die Musiker genauso leidenschaftlich wie ich, um das Hanson-Werk zum Leben zu erwecken, und meine Freunde in der Sibley Music Library an der Eastman School of Music konnten mich bei den Vorbereitungen für diese Weltpremierenaufnahme sehr unterstützen.
Bevor wir über die Werke sprechen: Was verbindet Sie mit dem Basque National Orchestra? In Mitteleuropa ist das Orchester (noch) nicht sehr bekannt...
Es ist schwierig, über Verbindungen zwischen Dirigenten und ihren Orchestern zu sprechen, diese Frage sollten Sie eher ihnen stellen als mir (lacht). Als ich als Gast zu diesem Orchester kam, kann ich nur sagen, dass ich weder das Ensemble noch das Baskenland kannte, und das lag eher an meiner Unwissenheit als an seiner Bedeutung. Der Generaldirektor Oriol Roch sagte mir ganz offen, was ich seiner Meinung nach hier leisten könnte: ein Orchester entwickeln, einen Kulturwandel begleiten, eine neue Art der Arbeit in Spanien aufzeigen und dieses Orchester international bekannter machen. Wir haben uns darauf geeinigt, diese Reise gemeinsam mit den Musikern anzutreten. Ich bin jetzt seit fünf Jahren hier und habe sieben Jahre lang mit ihnen gearbeitet. Ich habe versucht, sie so gut wie möglich zu begleiten, ihnen zu helfen, wo ich konnte, und andere zu finden, die sich uns auf unserer Reise anschließen. Was wir jetzt haben, ist ein Orchester von höchstem Niveau in Spanien, das in der Welt immer bekannter wird. Gerade in dieser Woche wurden wir vom Gramophone Magazine mit dem Editors Choice für Americascapes ausgezeichnet, eine Premiere für das Orchester, und das war für uns alle sehr erfreulich. Sie vertrauen mir, unterstützen meine Vision und helfen mir, diese Vision zu verwirklichen. Mehr noch, sie haben jetzt mehr Appetit auf diese Art von sozialem/künstlerischem Projekt, und ich glaube und hoffe, dass dies weit über meine Amtszeit als Chefdirigent hinaus anhalten wird.
Ives, Barber, Copland, Bernstein, Feldman, Glass, Carter sind weithin bekannte amerikanische Komponisten, Hanson vielleicht auch. Aber kaum jemand kennt Loeffler, Ruggles und Cowell. Wie sind Sie auf diese Komponisten aufmerksam geworden?
Die einfache Antwort darauf lautet: durch Recherche, durch sehr viel Recherche (lacht). Für mich war das erste Werk, das ich unbedingt aufnehmen wollte, dasjenige von Ruggles. Ich kam mit ihm in Kontakt, als ich an der Musikhochschule studierte. In einem Antiquariat sah ich ein New Music Quarterly of Modern Compositions vom Oktober 1927, herausgegeben von der New Music Society of California, wo Henry Cowell Direktor war. Darin befand sich eine vollständige Partitur von Ruggles' „Men and Mountains“. Ich verliebte mich wirklich in Ruggles und träumte davon, eines Tages seine Musik aufs Programm setzen zu können. Das nächste, was mich interessierte, war die Inschrift auf der Partitur: „Henry Cowell, Director“. Ich war neugierig und habe diesen Namen dann nachgeschlagen und angefangen, viele Partituren in der Bibliothek durchzusehen – und das war's, ich war auf dem Weg, vor all den Jahren. Als ich in die jüngste Vergangenheit zurückkehrte, stellte ich mir eine einfache Frage. Sie kam mir in den Sinn, als ich begann, in Europa zu leben, und sie lautet: Wann haben wir Amerikaner eigentlich damit begonnen, die westliche europäische Kunstmusik zu beeinflussen, den Jazz nicht mitgerechnet? Das wurde die eigentliche These von „Americascapes“. Die Entstehungsgeschichte des Albums liegt also fast 20 Jahre zurück.
Lassen Sie uns über die einzelnen Werke sprechen: Wo haben Sie „La Mort de Tintagiles“ von Loeffler „ausgegraben“? Das Werk klingt in meinen Ohren ja (noch) sehr europäisch, oder?
Es klingt auf jeden Fall sehr europäisch! Loeffler als Komponist wurde mir vom Ondine-Chef Reijo Kiilunen als möglicher Kandidat für das Projekt vorgeschlagen. Ich habe das große Glück, mit diesem Label zusammenzuarbeiten. Die Diskussionen, die wir führen, drehen sich nicht so sehr um die konkreten Werke, sondern um Visionen und Ideen, Ästhetik und Zeitplan. Es ist also ein sehr dynamischer Prozess, der mir sehr viel Spaß macht. Das einzige große Problem bei Loeffler, das gelöst werden musste, als klar wurde, dass es sich um großartige und perfekt passende Musik handelt, war die Viola d'Amore. Glücklicherweise hat das Basque National Orchestra zwei wunderbare Solobratscher im Orchester, die beide bereit waren, speziell für dieses Projekt Viola d'Amore zu lernen. Mit einem fairen Münzwurf haben wir uns darauf geeinigt, dass Delphine Dupuy diese Aufgabe übernimmt (lacht), und sie hat sich wirklich ins Zeug gelegt, um Unterricht bei Experten in Frankreich zu nehmen und ein hervorragendes Instrument zu bekommen. Ich bin meinen Kollegen im Orchester wirklich dankbar, dass sie dieses besondere Werk Wirklichkeit werden ließen. Deine besten Ideen als Dirigent sind nichts wert, wenn du niemanden hast, der dir dabei hilft, sie zu verwirklichen.
Mir persönlich gefallen besonders die vier kurzen „Evocations“ von Ruggles. Wer „war“ Ruggles und welche Bedeutung haben die „Evocations“ in seinem Oeuvre?
Ja, das ist eines meiner absoluten Lieblingsstücke auf dieser Aufnahme. Zunächst möchte ich sagen, dass es sich hier um eine Musik handelt, die sich durch eine extreme Konzentration von Klang und Material auszeichnet, sie ist so dicht und streng wie nur möglich. Davon abgesehen war mein großer Wunsch, Evocations aufzunehmen, meine Unzufriedenheit mit der Behandlung von Ruggles' Musik im Allgemeinen. Erstens wird diese Musik größtenteils gar nicht aufgeführt, zweitens wird sie – wie die Musik von Berg, Schönberg und Webern – als „objektivistische Musik“ betrachtet, und das ist sie nicht. Es ist vielmehr Musik der „expressionistischen“ Periode, und das bedeutet, dass sie mehr Seele, Wärme, Leidenschaft und extreme Schwankungen von Stimmung und Klang haben muss. Diese vier Stücke evozieren jeweils neue Welten und Gefühle. Er war ein solcher Perfektionist und komponierte in einem so eisigen Tempo, dass wir nur sehr wenig von ihm für Orchester haben. Ich träume davon, den Rest seiner Musik aufzunehmen, denn für mich ist sie absolut fantastisch.
Wie kann es sein, dass ein so schönes Stück wie Hansons „Before the Dawn“ noch nie auf einer Aufnahme erschienen ist? Wie war es für Sie und das Orchester, hier die Weltersteinspielung machen zu dürfen?
Um ehrlich zu sein, ist das leicht zu verstehen: Hanson wird nicht mehr so oft aufgeführt, und wenn seine Musik gelegentlich doch aufgeführt wird, dann sind es in der Regel die Sinfonien. In gewisser Weise haben Hansons Beiträge als Pädagoge und Dirigent seine kompositorischen Bestrebungen völlig in den Schatten gestellt. Man braucht nur Bernstein, Esa-Pekka Salonen und Boulez (die Liste ließe sich beliebig fortsetzen) anzuschauen, um Beispiele für Komponisten-Dirigenten zu finden, die damit zu kämpfen hatten, einer Tätigkeit den Vorrang zu geben. In jedem dieser Fälle musste jeder Komponist/Dirigent seine eigene Lösung für diese Schwierigkeit finden. Schließlich waren die Teile so durcheinander, dass ich denke, dass bei einem so kurzen Werk die meisten Leute wahrscheinlich das Gefühl hatten, dass der Aufwand das Ergebnis überwiegt. Für das kürzeste Stück des Albums war es in vielerlei Hinsicht das schwierigste. Am Ende ist es genau richtig: ein schönes Stück, das endlich seinen Platz in der Welt gefunden hat.
Die „Variations for Orchestra“ von Cowell sind auch eine echte Entdeckung in meine Ohren. Liege ich richtig, wenn ich sage, dass das Werk mit seiner Schlussfuge ein wenig an den späten Hindemith erinnert?
Ich liebe Hindemith, aber wenn es um kompositorischen Einfallsreichtum geht, ist Cowell ein echtes Ungeheuer. Er ist in seinem künstlerischen Impetus fast völlig uneingeschränkt, er hat keine Skrupel, eine Regel zu brechen, sie zu verbiegen oder einfach so zu tun, als hätte es sie nie gegeben – Radikalität in Person. Als wir das Finale aufnahmen, sagte ich zum Orchester: Stellt euch vor, Berlioz, Frank Zappa, Black Sabbath, Led Zeppelin und ein tauber Beethoven hätten sich zusammengetan und beschlossen, eine Melodie so lange zu verprügeln, bis Beethoven sie deutlich hören konnte. Die von Hand geschriebene Partitur sieht aus, als sei sie von Cowell durchkomponiert worden, mit hartem Auskratzen von Stimmen und schlampigen Korrekturen in der Partitur. Es ist schwer, mit diesem Material zu arbeiten, aber in gewisser Weise ist es so, als hätte man die frenetische Energie des Komponisten im Raum, wenn man seine Handschrift sieht.
Eine Sache interessiert mich noch, sie betrifft das Cover-Artwork der CD. Ich persönlich finde das großartig! Endlich mal kein Bild mit langweiligen Sonnenuntergängen, Bergen, Flüssen, Seen und amerikanischen Prärien. Stattdessen sehen wir einen sichtlich entspannt wirkenden und leger gekleideten Dirigenten vor sehr prosaischen Baukränen. Das nenne ich Stil! – Hatten Sie ein Mitspracherecht bei der Gestaltung?
Ich freue mich, dass Ihnen das Cover gefällt. Und, ja, ich habe bei der Covergestaltung durchaus etwas zu sagen, auch dank unserer wunderbaren Zusammenarbeit. Ich mag die „langweiligen Sonnenuntergänge, Berge, Flüsse und Seen“, besonders wenn sie einen klaren Bezug zur Musik haben, aber dieses Album enthält keine Musik der „Natur“. Es ist Musik der Stadt, eines urbanen, sich entwickelnden Amerikas. Wenn einigen Leuten das Cover nicht gefällt, ist das für mich völlig in Ordnung. Es spielgelt wider, was ich als „amerikanischen“ Charakter bezeichne. Erstens ist das Aufsteigen von Wolkenkratzern, ganz aus Glas und Metall, das ist ein eindeutig amerikanisches Merkmal, das Europa und der Rest der Welt inzwischen sehr sicher in ihrer Architektursprache haben. Es ist schon komisch, aber Lässigkeit habe ich immer mit der amerikanischen Pop-Kultur assoziiert. Als ich nach Europa zog, habe ich versucht, meine Kleidung auf Anzüge, Krawatten usw. umzustellen. Für das Cover habe ich aber einfach ein paar meiner Freizeitklamotten geholt, die ich auch auf der Straße tragen würde. Es ist wirklich ein Foto von mir, das mich authentisch zeigt: der optimistische amerikanische Dirigent, der in Europa arbeitet. Ich musste nicht meinen schwarzen Stetson Cowboyhut aufsetzen, um amerikanisch zu wirken! Und bevor Sie mich das jetzt fragen: ja, ich besitze einen Cowboyhut, ich bin schließlich aus Texas (lacht).
Das Interview führte Dr. Burkhard Schäfer
Siehe dazu auch die Rezension in der HörBar der nmz von Michael Kube.