Die Geste und Rihm, sie gehören an diesem Abend zusammen: Die Hand unter das Kinn gestützt und abwechselnd mal einen, mal zwei oder drei Finger an die Wange gelegt. So hört der Komponist dem Gewandhausorchester bei seinen zaghaften Pianissimoklängen und den eruptiven Ausbrüchen mit viel Schlagwerkunterstützung zu. Wolfgang Rihm ist hoch konzentriert, genießt und wirkt zufrieden, als in Leipzig seine Komposition „Samothrake“ für hohen Sopran und Orchester uraufgeführt wird. Ein Auftragswerk des Gewandhauses, das den Komponisten bat, anlässlich seines 60. Geburtstages – vor zwei Tagen – dieses Stück zu schreiben.
Samothrake – diesen Titel hat der Maler Max Beckmann seinem Text gegeben. Erst 2010 tauchte der wieder auf und erschien in den Mitteilungen der Max-Beckmann-Gesellschaft, deren Mitglied und somit auch Empfänger der regelmäßig erscheinenden Publikationen Wolfgang Rihm ist. Sofort affiziert sei Rihm vom Text gewesen. In ihm fasst Beckmann irgendwann zwischen 1934 und 1946 in komprimierter Form die Situation der Welt zusammen. Deren Wertekonsens sei zersplittert, liest Rihm aus den manchmal etwas holprigen Zeilen heraus, die Grundlage für sein Stück für Sopran und Orchester werden.
Ulf Schirmer Intendant und Generalmusikdirektor der Oper Leipzig – am Haus gegenüber – ist für die Uraufführung verpflichtet worden. Er macht seinen Job ausgesprochen gut: Die schroffen Gegensätze in Rihms Stück lotet er genau aus und lässt das Orchester die Textaussagen musikalisch nachzeichnen. Hier ein fliehendes Pianissimo der frei liegenden Geigen, dann Klänge, die an Filmmusik erinnern, punktgenau gesetzte Pizzicati und wuchtige, schroffe Eruptionen – all das gibt es im neuen Rihm, aber in stark reduzierter Form und auf das Wesentliche komprimiert. Im Kleinen ganz groß ist Rihms Samothrake.
Wunderbar ist es auch, Anna Prohaska zuzuhören. Denn sie verzaubert, weil sie die konzentrierten musikalischen Linien von Rihms Komposition ausfüllt. Ihr Gesang ist schnörkellos, kraftvoll und besticht durch Brillanz und Sicherheit, auch wenn die Melodielinie höher und höher steigt. Ausdrucksstark singen kann die junge Sopranistin: flüsterleise, im entgrenzten Fortissimo und überall dazwischen. Eine Wonne, ihr zuzuhören. Auch Rihm scheint am Ende glücklich mit der Uraufführung zu sein. Er genießt den donnernden Applaus und die Bravos auf der Bühne.
Donnernden Applaus bekommen Ulf Schirmer und das Gewandhausorchester für ihre Interpretation von Richard Strauss’ Sinfonia domestica op. 53. Wie das Eröffnungsstück des Konzertabends – Franz Liszts „Von der Wiege bis zum Grabe“ – ebenfalls Programmmusik. Doch statt einen gesamten Lebensweg musikalisch nachzuzeichnen, hat sich Strauss nur eine kleine Szene aus dem Familienleben herausgepickt. Und das ist unter Ulf Schirmer und dem Gewandhausorchester äußerst lebendig, quirlig und emotional. Die Musiker zeigen musikalisch das Toben und Tollen, verstörte Träume und ein zartes Wiegenlied.
Wolfgang Rihms Uraufführung der „Samothrake“ reiht sich zwischen diese beiden mehr als 100 Jahre älteren Programmmusiken erstaunlich gut ein. Und Rihm kann weiter genießen, seine Hand unter das Kinn gestützt.
Weitere Aufführungen: 16., 18. März 2012 im Gewandhaus zu Leipzig