Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung veröffentlicht dieses Frühjahr keine Prognose für 2010. Die Berufsprognostiker halten quantitative Voraussagen in der gegenwärtigen Situation großer Unsicherheiten für nicht sinnvoll. Auch ohne gesicherte Fakten legt die Politik dennoch ein Förderprogramm nach dem anderen auf, zunächst für notleidende Banken, dann für Infrastrukturmaßnahmen der öffentlichen Hand, vielleicht bald für systemrelevante Autohersteller. Den Gedanken, dass Kultur und im weiteren Sinne die Kulturwirtschaft ebenso systemrelevant sein könnten, hat man bisher nicht weiter verfolgt.
Warum eigentlich nicht? Im Vergleich zu anderen Wirtschaftsbranchen liegen die Creative Industries beim Anteil am Bruttosozialprodukt ungefähr zwischen der Chemischen Industrie und der Automobilindustrie. Die Zahl der Beschäftigten ist sogar dreimal so hoch wie in der Automobilindustrie. Müssten nicht sämtliche Zeitungen und Nachrichtensendungen in großen Lettern und aufgeregt über Künstler und Kreative mit einem Jahreseinkommen von weniger als 15.000 Euro berichten? Über zu wenige Musiklehrer an den Schulen, über die niedrigen Stundenlöhne für freie Musikschullehrer und Lehrbeauftragte an Musikhochschulen, über den Verfall des Urheberrechts und über den Jazzmusiker als den ewigen „Armen Poeten“ der Musikbranche, der seinen künstlerischen Treibstoff aus permanenter existenzieller Ungewissheit bezieht?
Einige Beobachtungen auf der Frankfurter Musikmesse lassen vielleicht doch Prognosen für den Musikmarkt zu. Die deutschen Klavierbauer verweigerten sich komplett und erschienen nicht – Unzufriedenheiten mit der Halle waren offiziell die Ursache, doch liegt es nahe, dass auch die verschärften Wettbewerbsbedingungen mit Billiganbietern aus Fernost zum Fernbleiben beitrugen. Für Aufsehen sorgte auch eine Protestaktion ehemaliger Mitarbeiter des koreanischen Gitarrenherstellers Cort/Cor-Tek Guitars auf der Messe, die sich gegen Lohndumping und die Diskriminierung von Gewerkschaftsmitgliedern zur Wehr setzten. Die Musikalienhändler, die früher in der Halle 3.1. noch persönlich ihre Jahresorder machten, tun dieses heute per Computer, und so fragen sich viele Verlage, ob sich die Ausgaben für den Messeauftritt noch lohnen, wo doch dieser mehr oder weniger nur noch Imagegründe hat. Deutlich kleinere Standflächen und etwas weniger Aussteller bestätigten 2009 diesen Trend. Wer sparen wollte, wie etwa die GEMA, die sich dieses Jahr vom Gemeinschaftsstand der Verbände verabschiedet hatte, musste leider draußen bleiben und seinen Stand im Eingangsbereich der Halle 3.1. aufbauen, wo die Standpreise erheblich niedriger sind.
Beim Lienau-Verlag gab es Entlassungen, ob dies allerdings als Krisenzeichen gedeutet werden muss, bleibt offen, denn die gedruckte Note scheint noch eine große Zukunft vor sich zu haben, glaubt man Wolf-Dieter Seiffert vom G. Henle Verlag. In einem Vortrag anlässlich des Panels „Notendrucke: Prächtige Zukunft oder sentimentale Vergangenheit?“ sah er für das Musik-E-Book keine großen Chancen und plädierte für ein über 500 Jahre altes bewährtes Medium, nämlich Musik auf Papier – ein Datenträger haltbarer und unzerstörbarer als jeder Computer und jede Software und im Einsatz auf dem Notenpult bislang unübertroffen. Soweit Henle. Verlage wie die Universal Edition, C.F. Peters, Doblinger und Schott Music schlossen sich dagegen zu einem gemeinsamen Portal zusammen, in dem sie ihren Kunden Noten zum legalen Download anbieten wollen. Eingeladen sind nicht nur alle Verlage, sondern auch der Handel, der von Beginn an eingebunden werden soll. Ob die Musikalienhändler das auch wollen, ist äußerst fraglich.
Große Hoffnungen setzen die Musikinstrumentenhersteller auf das in NRW angelaufene Projekt JeKi (Jedem Kind ein Instrument), das in anderen Bundesländern zahlreiche Nachahmer findet. Hier werden derart viele Schüler der allgemein bildenden Schulen musikalisiert, dass spätestens bis 2011 eine Explosion der Zahl an Instrumentalschülern zu erwarten ist.
Zu diesen in Frankfurt gesammelten Indizien und Fakten gehören auch positive Meldungen der Messe über gestiegene Besucherzahlen und nur leicht zurückgegangene Ausstellerzahlen. Was aber fehlte? Zum Beispiel Lobby-Aktivitäten mit bundesweiter Ausstrahlung wie etwa eine Aktion des Tags der Musik, der allerdings erst im Juni an den Start geht. Es fehlt nach wie vor ein attraktives Festival, das neben dem populären Sound-Gewitter in den Hallen auch klassische und Neue Musik zur Aufführung bringt. Warum nicht in Kooperation mit den Instrumentenherstellern und Musikhochschulen Konzertabende im Kongresszentrum veranstalten, die vom jeweiligen Instrument aus gesehen die Musikgeschichte und -gegenwart repräsentieren?
Die erste Generation „Digital Natives“ ist herangewachsen und geschäftsfähig. Für die Messe stellt sich mittelfristig die Frage, ob sie in der heutigen Form überflüssig wird, abgelöst durch eine Internet-Fair oder einen virtuellen Marktplatz für den Endkunden? Noch ist gerade das Nichtvirtuelle ein Bonus für das Konzept Musikmesse. Hier kann man Instrumente noch anfassen und ausprobieren, Noten durchblättern und anspielen. Am Messestand begegnet man sich verbindlicher als im Web 2.0. In diesem Zusammenhang gab es von Ausstellerseite ausgesprochene Sehnsucht nach dem Publikumssonntag.
Im Gegensatz zur Autobranche hat der Musikmarkt noch Aufschub, um zu agieren, bevor man nur noch reagieren kann. Schuldenbremse und Haushaltsperren greifen frühestens nächstes Jahr mit allen möglichen Folgen für die freiwillige Pflichtaufgabe Kultur. Ein Satz von Monika Griefahn, gefallen bei einem Interview am ConBrio-nmz-Stand, gibt hier eine Richtung vor. „Wenn wir weiter wirtschaften wie bislang, jeder für sich, nur um möglichst großen Profit zu erreichen, ohne an unsere wahren Wurzeln und Werte zu denken, werden wir keine Zukunft haben. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der technischen Entwicklung, zum Beispiel dem Bereich der erneuerbaren Energien, in dem wir Weltmarktführer sind, und der Tatsache, dass wir ein Kulturland sind – für beides ist Kreativität notwendig. Wenn wir diesen Zusammenhang aufgeben, dann verlieren wir das, was es uns möglich macht, technologische Spitzenprodukte herzustellen.“ In einer zukünftigen Ökonomie muss der Systemrelevanz von Kultur und den Künsten Rechnung getragen werden. Denn wovon lebt der Mensch? Sicher nicht von rein quantitativem Wirtschaftswachstum. Außerdem gilt: Unendliches Wachstum von Bestehendem gibt es nicht – nur Neues kann wachsen.