Ludwigshafen ist ein kleines Faszinosum: Auf dem Bahnhofsvorplatz angekommen fühlt man sich je nach Wochentag und Uhrzeit verloren wie in einer Geisterstadt. Die Hochstraßen am Himmel erinnern an Zukunftsvisionen aus der Vergangenheit, gegenüber eilt jemand mit gesenktem Kopf über das leere Pflaster. Irgendwann bekam die Stadt das Label „Germanys Ugliest City“ verpasst, Deutschlands hässlichste Stadt – aber das Stadtmarketing machte es sich zu eigen: Mittlerweile bietet Ludwigshafen Führungen durch die architektonischen Abgründe der Gegend an. Ein selbstironischer, kreativer Twist. Unterwegs kommt man bei diesen Führungen auch an der Philharmonie vorbei: Der brutalistische Betonklotz fügt sich architektonisch nämlich wunderbar in den postapokalyptischen Vibe der Umgebung ein – hinter den Mauern hat sich in dem vergangenen Jahr, halb im Verborgenen, allerdings eine kleine Revolution abgespielt.
Zeuginnen und Zeugen des Wandels
Derjenige, der sie angezettelt hat, klingt im Gespräch zuerst allerdings etwas ernüchtert – wie jemand, der gescheitert ist: „Ich glaube nicht mehr an diesen Ansatz des Audience Development, der Leute vor allem fit machen will fürs Abo“, sagt Beat Fehlmann, seit sechs Jahren Intendant des Hauses. „Diese Strategie haben wir aufgegeben.“ In Zeiten, in denen die Besuchszahlen für klassische Konzerte sinken, in denen das Publikum so alt ist wie noch nie, ist er nicht der erste, der versucht klassische Musik mehr in einer Stadt zu verankern. Fehlmann will das Zugehörigkeitsgefühl der Menschen zu „ihrem“ Orchester stärken und dafür spezifische Angebote für unterschiedliche Zielgruppen machen – er will „in die Communities gehen“, wie er es ausdrückt.
Heißt: In einer Stadt mit verhältnismäßig hohem und steigendem Migrationsanteil wie Ludwigshafen verliert ein Orchester zwangsläufig Publikum, wenn es sein Programm weiterhin ausschließlich an den Interessen der weißen deutschen Bourgeoisie ausrichtet. „Communities“ ist dabei nur ein Codewort für: alle, die nicht zu dieser Gruppe dazu gehören und sich abseits ihrer Strukturen organisieren.
Anders als diejenigen aber, die deshalb bei einem Festival eine exotistische „Weltmusik“-Bühne anbieten oder alle paar Jahre eine Oper auf Türkisch, stehen bei ihm die Perspektiven und Bedürfnisse derjenigen im Zentrum, die die Kunst machen und durch sie repräsentiert werden – nicht primär das vermeintliche Interesse des immergleichen Modellpublikums. Fehlmann spricht von Vertrauen, davon, sich gegenseitig ernst zu nehmen – und von einem grundsätzlichen Wandel der Strukturen, den es für sein Vorhaben als allererstes bräuchte.
Und so hat das Orchester im Jahr 2022/23 ein Pilotprojekt gestartet: Die Musiker*innen sollen fortan in dramaturgische Entscheidungen eingebunden sein – denn sie sind es schließlich, die Teil der Stadtgesellschaft sind, die Kinder in Schulen haben, Eltern in Pflegeheimen, Freund*innen in sämtlichen Berufen und Ehrenämtern und aus diversen Kontexten. Die Musiker*innen, so Fehlmann, sollen „aktive Botschafter*innen“ sein, die zu den Gesichtern der Institution werden – sie sollen nicht länger einfach nur auf ihrem Stuhl sitzen und die Noten spielen, die ihnen vorgesetzt werden, sondern mitdenken und -entscheiden können, was auf der Bühne insgesamt passiert. Sie sollen eigene Konzertreihen entwickeln können, neue Aufführungsformate, Kooperationen.
Damit sich die Musiker*innen dabei nicht selbst ausbeuten, haben Fehlmann und die Verwaltung des Hauses eine heilige Kuh geschlachtet: Anstelle des TVK hat das Orchester einen eigenen Haustarifvertrag entwickelt. In dieser Version erlaubt er flexible Arbeitszeiten und die Bezahlung der kreativen Denk- und Entwicklungsarbeit für alle Musiker*innen, die ihre Ideen einbringen möchten. Konkret: Stunden, die nicht am originären Instrument geleistet werden, werden mit einem anderen Schlüssel als Arbeitszeit verrechnet – die Musiker*innen haben ihr Instrument schließlich studiert, die Ideenentwicklung und Dramaturgie nicht. Gleichzeitig kann jede*r, der*die nach wie vor einfach nur in Ruhe sein*ihr Instrument spielen will, das in diesem Kontext genauso tun wie vorher auch. Aus der freien Szene kennt man solche Modelle bereits – für öffentlich geförderte, große Häuser und Orchester wurde hier ein Präzedenzfall geschaffen.
Dadurch entsteht auf administrativer Ebene logischerweise deutliche Mehrarbeit, für Beat Fehlmann, für den Orchestervorstand, für die ganze Organisation: Bevor eine Idee umgesetzt wird, müssen verschiedene Gremien zusammenkommen, gemeinsam mit den Ideengeber*innen und dem Intendanten und in ein- bis mehrstündigen Konkretisierungsworkshops die Impulse ausarbeiten. Sie schärfen die Herangehensweise, kanalisieren die dahinterstehende Absicht. Das kann nervenaufreibend sein, enttäuschend manchmal, wenn ein Projekt dann doch nicht umgesetzt wird – aber offenbar auch beflügelnd und empowernd. Im Gespräch berichten Musiker*innen von langer Unzufriedenheit mit der passiven Rolle als Instrumentalist*in, dem Zwang starre Vorgaben befolgen zu müssen, ein Programm zu spielen, das man ihnen „vorsetzt“ – dagegen zu arbeiten, sagt eine von ihnen, sei für sie da unglaublich reizvoll gewesen. Gerade manche der jüngeren Musiker*innen fühlten sich eingeengt durch die Aussicht, die nächsten 30 Jahre ihres Lebens weiterhin auf dem gleichen Stuhl zu sitzen und pflichtgetreu ihren Dienst zu erfüllen. Ist das nun eine Win-Win-Situation? Oder macht es sich ein Intendant wie Fehlmann nicht trotzdem ganz schön leicht – seine Musiker*innen, die ohnehin schon Vollzeit arbeiten und bezahlt werden, um ihre Ideen zu bitten, diesen Pool an Kreativität auszuschöpfen, anstatt sich eigene Gedanken zu machen? „Das kann man so sehen“, stimmt er zu. Weniger Arbeit bedeute das für ihn allerdings überhaupt nicht.
Im September 2023 hat der Vorstand eine erste Evaluation durchgeführt, das Ergebnis: Ungefähr 80 Prozent der Mitarbeitenden wollten am Modellprojekt teilnehmen, etwa die Hälfte fand das Projekt gut – aber auch genauso viele sind der Meinung, dass das Orchester dadurch nicht an künstlerischer Qualität gewinnt. Im Gespräch mit Orchestermusikerinnen schwingt neben teils großer Euphorie ebenfalls eine gewisse Unsicherheit mit: Wie groß ist der zusätzliche Arbeitsaufwand? Inwiefern kann und darf man überhaupt in einem Gewerk mitmischen, das man so gar nicht gelernt hat?
Nicht jeder Musiker ist automatisch auch ein guter Dramaturg, nicht jede Instrumentalistin eine geeignete Projektentwicklerin. Dementsprechend waren die bisherigen Ideen, die aus dem Orchester kamen und diskutiert und umgesetzt wurden, auch keine großen innovativen Schwünge – vor allem erinnern sie an Konzepte, die es bereits woanders gibt: ein Konzert in einem Club oder an anderen vermeintlich ungewöhnlichen Orten, ein Dirigierwettbewerb, ein Gesprächskonzert, Kinderkonzerte, Demenzkonzerte. Eine Ideengeberin aus dem Orchester macht im Gespräch auch keinen Hehl daraus, nachgeschaut zu haben, „was die anderen so machen“, und auf dieser Grundlage abzuwägen, ob eine dieser Ideen nach Ludwigshafen passt.
Jetzt – eine Saison später und einen Innovationspreis weiter – ist man schlauer: In einer Abstimmung zum Ende der Saison sprachen sich 72 Teilnehmer*innen dafür aus, das Projekt weiterzuführen – 12 dagegen. Die Besuchszahlen: stabil.
Wie auch immer dieser Versuch am Ende ausgeht: Er könnte ein Vorzeige-Modellprojekt werden, nicht nur für Ludwigshafen, sondern auch für andere Orchester in Europa. Vielleicht passiert hier gerade der Wandel, den die Orchesterlandschaft so lange schon nötig hat. ¢
- Lesen Sie dazu auch den Text von Beat Fehlmann auf Seite 28 der nmz-Beilage Best of Junge Ohren #11!
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