Die Figur der Lulu als Wille und Vorstellung. Nordisch unterkühlt inmitten von lebhafter Buntheit. In Stefan Herheims Inszenierung der gleichnamigen Oper von Alban Berg, die jetzt als Koproduktion von Kopenhagen nach Dresden übertragen worden ist, wird dieser Typus vorgeführt, seziert und gleichsam analysiert. Das musikalische Potential bleibt dabei keineswegs auf der Strecke. Für den Schlussakt bedient man sich einer Neufassung von Eberhard Kloke.
Frank Wedekind war ganz schön frech für seine Zeit. Die beiden Dramen „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“, die er 1913 in einer nach beider Hauptfigur „Lulu“ benannten Tragödie zusammenfasste, stecken voll von derb erotischen Anspielungen und Schlüsselbildern. Darin enthalten ist eine nur karg verhüllte Zeitkritik an klerikal geprägten Epochen deutscher Monarchie.
Was etwa zwanzig Jahre später der Österreicher Alban Berg daraus gemacht hat, seine im dritten Akt unvollendet gebliebene Oper „Lulu“, das klang auch mal zwölftönern schwer und fremd in allen Ohren. Inzwischen besinnt man sich auch auf den spätromantischen Ton in diesem Werk, haben sich Hörgewohnheiten natürlich verändert, ist die einstige Prüderie einer gewissen Aufklärung gewichen. Schwer jedoch ist diese Partitur sowohl für die Sängerbesetzung als auch im Orchester bis heute geblieben. Und zumindest schwierig ist mitunter auch die Entscheidung, welche der heute denkbaren Fassungen für die Bühne gewählt wird – das unvollendete Original, die 1979 in Paris uraufgeführte Version von Friedrich Cerha oder jene erst vor rund eineinhalb Jahren in Kopenhagen herausgekommene Variante von Eberhard Kloke.
Letztere rundet den dritten Akt ab, greift aber auch in die ersten beiden Akte behutsam ein, auf dass ein relativ homogener Gesamteindruck entsteht. Augsburg und Erfurt bekamen sie schon zu hören; in Koproduktion mit Kopenhagen und Oslo ist die Sächsische Staatsoper Dresden nun das dritte deutsche Haus mit der Kloke-„Lulu“. Stefan Herheim, nominell Hausregisseur der Semperoper, bringt damit seine zweite Regie heraus, die nach Dvoráks „Rusalka“ (nmz online 15.12.2010) eine weitere Übernahme gewesen ist. Unter der musikalischen Leitung von Cornelius Meister entfaltete die Staatskapelle einen prächtigen Klangzauber und war ein vorzügliches Sängerensemble zu erleben.
Für die Traditionsoper in Dresden ist „Lulu“ durchaus ein Wagnis. Dass sie es mit einem so ambitionierten Regisseur angegangen ist, verdient Respekt. Und der ungeteilte Premierenbeifall beweist, dass dieser Kurs eine Zukunft hat, aller vorsichtigen Ansetzung im Spielplan zum Trotz. Zirkus in der Oper, das funktioniert, wenn es nicht zum Klamauk verkommt. Die Titelheldin entsteigt einer paradiesischen Darstellung im Stile à la Henri Rousseau. Sie ist in ein Nacktkostüm gekleidet, soll Schlange darstellen, hat aber den einen oder anderen Faltenwurf zu viel. Was nicht an der dänischen Darstellerin Gisela Stille liegt, sondern in der Tat am Kostüm.
Nach diesem Prolog ist Lulu dann erst mal mondän ausstaffiert, um den jähen Aufstieg vom Maler-Modell zur gefragten Diseuse und Muse zu zelebrieren. Ihr tiefer Fall zu einer gemeuchelten Straßendirne scheint da noch undenkbar. Doch all ihre Liebhaber reiben sich an der Macht, die Lulu über sie ausübt, und dem eigenen Geltungsbestreben. Letztendlich trifft das auch auf ihren Mörder zu, den die erst so selbstbewusste Frau zum Schluss sich gänzlich ausliefert.
Die Stationen vom Auf und vom Ab finden in einer Arena statt, einer Zirkusarena, die mal von innen und mal von außen gezeigt wird. Bretterwände sind es letztlich nur, die all dieser Lebewelt einen (zerbrechlichen) Rahmen verschaffen. Darin und darum wird ein Puppenheim zelebriert, das mal albern und mal gestelzt erscheint. Affektiertes Spiel zeigt mitunter die Distanz zur eigenen Rolle, als solle sie nicht ganz ernst genommen werden. Das berühmte Spiel im Spiel. Zusätzlich wird es hier noch konnotiert von stummen Clowns-Maskeraden, die von einer erhöhten Brüstung aus das Geschehen persiflieren. Enorm viel Schauwert also, in jedem Moment ein Geschehen, das faszinieren könnte es aber nicht durchgehend kann. Wenn Drehungen und Entwicklungen allzusehr absehbar sind, leidet nicht nur die Spannung. Die Komödianten agieren dann nur mehr zum Selbstzweck. Echte Komödianten tun sowas nicht.
Bei Herheim wird die Oper „Lulu“ von ihrem Schluss her inszeniert, die „Schlange“ Lulu verkommt letztlich zum Feindbild, das dann auch kollektiv gemeuchelt wird. Die Femme fatale ist nicht nur eine gefallene Heldin, sie ist ein Opfer ihrer selbst und ihrer gelebten Theatralik. Das kommt nicht immer ganz stringent über die Bühne. Aber eine Vielzahl an Szenen des vierstündigen Abends ist packend gelungen, dupliziert das Portal des Hauses noch einmal en miniature, zeigt die Sensenfrau Lulu im Circensium der freien Liebe. Wie lieblos das alles ist, erfährt das gesamte Personal des Geschehens auf grausame Weise und jeweils recht individuell. Der Gottesnarr Jesus, gekreuzigter Christus, symbolisiert das recht eindringlich. Ganz schön frech – und unterm Strich doch sehr zaghaft – für die heutige Zeit.
Neben Gisela Stille als Lulu und Christa Meyer als Gräfin Geschwitz überzeugten vor allem Markus Marquardt in seiner Doppelpartie als Dr. Schön und Jack the Ripper sowie Jürgen Müller als Schöns Sohn Alwa und Ketil Hugaas als sehr väterlich-diabolischer Schigolch. Die Sächsische Staatskapelle und Instrumentalsolisten auf offener Bühne haben sich einmal mehr höchsten Respekt eingespielt.
Termine: 7., 10.2., 25., 28.3., 19., 22.6.2012