Im digitalen Zeitalter gehört dazu Mut und Selbstgewissheit: Ein Foto für das Jahrhundertjubiläum des Bärenreiter-Verlags zeigt das Geschäftsführerehepaar Barbara Scheuch-Vötterle und Leonhard Scheuch mit dem dritten Geschäftsführer, ihrem Sohn Clemens Scheuch, auf schwerem Teppich vor einem vollen Buchregal. Das Ambiente kontrastiert zum längst auch in Kulturszenen dominierenden Funktionsdesign. Das nach dem Zweiten Weltkrieg unter aktiver Mithilfe von Mitarbeitenden wieder nutzbar gemachte Bauensemble im gehobenen Kasseler Stadtteil Wilhelmshöhe gehört zur gediegenen Moderne mit weißgrauer Fassade. An der Heinrich-Schütz-Allee ist die Jubiläumsflagge gehisst. Hier residieren neben Bärenreiter auch die Kasseler Musiktage, der Kultursommer Nordhessen, das Deutsche Musikgeschichtliche Archiv, die Gesellschaft für Musikforschung und andere Institutionen. Die auf den Verlagsnamen bezogenen ausgestopften Bären in den Fenstern sowie das herzig-bizarre Sammelsurium an Bären-Accessoires zeigen, dass es um mehr geht als Business und Maximierung. Im Eingangsbereich steht ein Ständer mit zum Jubiläum sehr bedacht produzierten Merchandising-Artikeln.
Die Jubiläumsflagge ist gehisst
Hier befindet sich die Schaltzentrale eines der bedeutendsten Musikverlage Deutschlands, der im Vergleich zu Breitkopf & Härtel (304 Jahre) und Schott (253 Jahre) allerdings noch ziemlich jung ist. An Bärenreiter Alkor kommen Musizierende, Musikwissenschaft und Musikeinrichtungen trotzdem nicht vorbei, wenn es um Bach, Mozart, Gluck, Telemann, Händel, Schubert und viele andere geht. Denn während andere Musikkonzerne seit einigen Jahren technische Innovationen in den Fokus rücken, bleiben bei Bärenreiter Notenbestände und Neueditionen, vor allem Urtext-Editionen dominierend. Zum Jubiläum erschien ein Magazin mit Texten von Verlagsmitarbeitenden. Auch an den fundiert aufbereiteten Bärenreiter-Informationen zu Neuerscheinungen merkt man: Es geht um Argumente, Fakten und hochqualitatives Arbeitsmaterial. Einige Themen sind die Positionierung des Verlags im Nationalsozialismus und der Ausbau zur weltweit aktiven Verlagsgruppe. Verdichtet wurde das internationale Bärenreiter-Netzwerk im Kalten Krieg mit Beziehungen in die DDR und in die Tschechoslowakei.
Die Geschichte und Verlagsgeschichte der Familie Scheuch-Vötterle erscheint im Magazin als engmaschiges Netz von Arbeitsleben und Lebensarbeit. Sie wird auch in der dritten Leitungsgeneration stabilisiert durch hohe persönliche Identifikation mit dem beruflichen Anspruch und dessen Inhalten. Karl Vötterle (1903–1975) hatte den Verlag bereits neben seiner Buchhandelslehre in seiner Heimatstadt Augsburg gegründet. 1927 zog der Verlag nach Kassel um. Barbara Vötterle übernahm die Verlagsleitung 1975 nach dem Tod ihres Vaters und teilte sie mit ihrem Ehemann Leonhard Scheuch. Seit 2021 ist Clemens Scheuch dritter Geschäftsführer.
Wo die Konzern-Prioritäten liegen, spiegelt sich auch daran: Statt eines gewichtigen Jubiläumsbands brachte Bärenreiter mit J. B. Metzler und in Zusammenarbeit mit BR-Klassik und Klavier-Festival Ruhr Tobias Bleeks „Im Taumel der Zwanziger. 1923: Musik in einem Jahr der Extreme“ heraus, einen Band über das Verlagsgründungsjahr und seine Folgen. Anfängliche Bärenreiter-Schwerpunkte waren in dieser Pionierzeit Noten für die Jugendmusikbewegung, Blockflöte, Chor und Orgel. Die ersten Veröffentlichungen waren die von Walther Hensel herausgegebenen „Finkensteiner Blätter“, einstimmige Lieder für die antimilitaristische Jugendbewegung „Wandervögel“. Während des Nationalsozialismus gab es unter Karl Vötterles jüdischem Freund Albert Dann sogar eine kurzzeitige Verlagsvertretung in Haifa und Tel Aviv. Als dem Verlagssitz Kassel die Schließung drohte, eröffnete man eine Niederlassung in Basel. Es folgten die Gründungen von Bärenreiter Limited in Großbritannien, Éditions Bärenreiter Paris und eine Filiale in den USA. Auch die Zusammenarbeit mit tschechoslowakischen Musikverlagen begann. Editionen der zu Bärenreiter gehörenden Alkor-Edition wie Antonín Dvoráks Oper „Rusalka“ (Neuedition 2023) schlugen eine Brücke über den Eisernen Vorhang. So bewahrte die Leitung der Verlagsgruppe ihre wirtschaftlich-programmatische Stabilität und baute diese aus. Kooperationen und synergetische Großprojekte erbrachten internationalen Erfolg. Schon lange entsteht mehr als die Hälfte des wirtschaftlichen Umsatzes außerhalb Deutschlands.
Energie ins Kerngeschäft
In den 1980er-Jahren entschloss sich der Verlag, die Druckerei aufzulösen und alle Aufträge an Fremdfirmen zu vergeben. „Nicht-musikalische“ Programmbereiche wie Laienspiele wurden eingestellt und veräußert. Man konzentrierte sich mit voller Energie auf die Kernaufgabe: Musikeditionen in hoher editorischer Qualität, anspruchsvolle Bücher über Musik und einige Zeitschriften, unter anderem „Musik & Kirche“ und „Die Musikforschung“. Natürlich ist Digitalisierung wie bei allen Musikverlagen ein wesentliches Thema. Die Geschäftsleitung erwägt unaufgeregt Chancen der Innovation, ohne die Tradition, die auf Papier gedruckten Notenausgaben, in Frage zu stellen. Auf die Ära der Gesamtausgaben folgt in den letzten Jahren nach und nach die ebenso sorgfältige Edition von Einzel- und Sammelausgaben, denn die Gesamtausgaben „großer“ Komponisten sind vergeben oder schon abgeschlossen. Zudem ist die Bereitschaft öffentlicher Geldgeber, neue Gesamteditionen zu finanzieren, gering.
Zum Beispiel wurde die Neue Ausgabe sämtlicher Werke von Wolfgang Amadeus Mozart bereits 1991 abgeschlossen, desgleichen ist die „New Berlioz Edition“ komplett. Die darin 1969 herausgekommene Oper „Les Troyens“ wurde durch die Edition von Hugh Macdonald für die Bühnen wieder spielbar. Vor allem durch den unermüdlichen Einsatz von Sir Colin Davis setzte sich das komplizierte Werk international durch. Editorische Bärenreiter-Großtaten häuften sich seit den 1950er-Jahren, zum Beispiel die zur Wiederaufführung bahnbrechende Ausgabe der Werke von Heinrich Schütz. Die Hallische Händel-Ausgabe wurde auch durch das intensive Bestreben von Ulrich Etscheit, Leiter der Promotion Bühne und Orchester bis 2022, zum Standard für Einstudierungen auf Originalinstrumenten, in historisch informierten oder romantisierenden Lesarten. Seine Nachfolgerin Marie Luise Maintz erzählt mit leuchtenden Augen von der akribischen Feinarbeit Thomas Hengelbrocks bei den Vorbereitungen zu seiner Aufführung und der parallelen Neuedition von Jules Massenets Oper „Werther“ in der Reihe „L’Opéra français“.
Der auf Belcanto und französische Oper spezialisierte Dirigent Enrique Mazzola spricht nicht nur im Hinblick auf dieses Repertoire von einer „Generation Bärenreiter“. Inzwischen sind Dirigierende in der Mehrzahl, für welche historisch fundiertes Aufführungsmaterial mit der Verfügbarkeit verschiedener Fassungen in einer Edition zum Standard gehört und die daraus Impulse für ihre Interpretationen gewinnen. Herausgeber der Neuen Bach Ausgabe sind, beziehungsweise waren, das Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und das Bach-Archiv Leipzig. Mit Stolz erwähnen die Unternehmenschroniken, dass Bärenreiter bis 1989 als einziger westlicher Musikverlag „Teile seines Programms in die Ostzone liefern durfte“ – das heißt ohne Umwandlung in Ost-Lizenzeditionen. Ab 1998 kam mit „Beethoven bei Bärenreiter“ ein ganz neues Segment hinzu. Mendelssohn, Debussy, Ravel, Elgar und viele andere „Neulinge“ folgten ab 2000.
Ein wichtiger Bereich seit Gründung und durch den seit 1957 zur Bärenreiter-Gruppe gehörenden Gustav Bosse Verlag sind Anthologien aus der Popularmusik für Laien, das „Neue Geistliche Lied“ und Chorausgaben. Bei Kirchenchören, Spielkreisen, Pfadfindern, Ferienfreizeiten und geselligen Musizieranlässen erfreuten sich Reihen wie „Bosse Hits a cappella“ und „Für Chor gemacht“ großer Beliebtheit, deshalb großer Verbreitung und hoher Auflagenzahlen. Diesem Angebotssegment droht jetzt allerdings eine starke Verkleinerung, weil Neuausgaben immer neue gesetzlich geschützte Titel, Hits und Schlager enthalten. Urheberabgaben schnellten in den letzten Jahren aber unverhältnismäßig in die Höhe und müssten auf den Verkaufspreis umgelegt werden. Für die Zielgruppen käme das oft zu teuer. Die Kundenbeziehungen in den klassischen Musiknischen und Institutionen sind dagegen nicht nur in Hinblick auf das riesige Werkangebot und editorische Erschließung stabil. Interpretierende schätzen Softskills wie Lesbarkeit und stabile Papierbeschaffenheit. Auch bei Bärenreiter merkt man das wachsende Interesse an digitalen Stimmen- und Aufführungsmaterialien, sieht jedoch noch keinen massiven Einbruch im Bedarf an physischen Editionen.
Zeitgenossenschaft im Zentrum
Langfristige Beziehungen zu lebenden Komponisten wie dem 2024 seinen 70. Geburtstag feiernden Beat Furrer, Dieter Ammann, Matthias Pintscher und Miroslav Srnka zählt die Verlagsgruppe Bärenreiter seit Gründung des Ursprungsverlags zu ihren wichtigen Aufgaben. Zu den früher vertretenen Komponisten gehören Hugo Distler, Giselher Klebe und Ernst Krenek. Ein Wissenschaftskollektiv erneuert allmählich die von Bärenreiter gegründete Enzyklopädie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ (MGG) mit einer wie bisher qualitätsbeständigen Präsentation. Neueditionen wie die von Bizets „Carmen“ mit allen Fassungen bestätigen, dass Bärenreiter im gegenwärtigen Musikbetrieb dank seiner Ausrichtung weiterhin stabil und erfolgreich bleibt. Sichtbares Zeichen für den lebendigen Austausch zwischen Edition und Praxis ist die Sammlung ‚bäriger‘ Accessoires, die auch durch Beiträge vieler Kundinnen und Kunden wächst. Der Eisbär im Schaufenster zur Heinrich-Schütz-Allee beginnt genüsslich zu schnarchen, wenn er am Stromnetz hängt. Der Verlag jedoch geht hellwach ins zweite Jahrhundert.
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