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Keith Jarretts Köln Concert wurde von der Improvisation zum Klassiker

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Köln - Es ist später Abend. Ein Geschichtenerzähler betritt die Bühne. Aber nicht, um aus einem Buch vorzulesen oder ein bekanntes Märchen vorzutragen. Die Geschichte, die er erzählen wird, hat noch niemand gehört, und auch er selbst kennt sie noch nicht, als der Begrüßungsapplaus verklingt. Keith Jarrett, 29 Jahre alt, setzt sich ans Klavier, denn er erzählt nicht mit Worten, und spielt vier Töne, die sich im Lauf der nächsten Stunde zu einer großen Klanggeschichte entwickeln. Unter dem Titel «Köln Concert» wird sie weltberühmt.

 

Am 24. Januar 1975 in der Kölner Oper war das aber nicht abzusehen. Der bestellte Flügel war nicht da, und der Bösendorfer, der irrtümlicherweise auf der Bühne stand, nicht spielbar. Konzertagentin Vera Brandes, erst 18 Jahre alt, setzte Himmel und Hölle in Bewegung - und bekam doch keinen Ersatz. Ohne den Klavierstimmer und seinen fünfstündigen Einsatz hätte es dieses Konzert nie gegeben.

Aber dann, eine Stunde vor Mitternacht, passte doch alles zusammen - die Erwartung des Publikums, der Flügel, der Künstler. «Keith war in einer unglaublich guten Spiellaune», erinnert sich Manfred Eicher, Produzent des Konzerts und Geschäftsführer von ECM Records.

Jarrett hängt diesen Bogen aus vier Tönen in die Luft, legt einen Rhythmus darunter, improvisiert. Komplex aber nicht kompliziert, eingängig, mit Lust am Klang. Hier und da blitzt Humor auf, Elemente wiederholen sich, aber nur, um zur nächsten Überraschung hinzuleiten. Es gibt Lyrik, es wird laut, schwere Anstiege, erlösende Gipfel, Virtuosität, die sich nicht in den Vordergrund drängt. Ein ums andere Mal die für Jarrett typischen Ausrufe und Seufzer.

Wer das Konzert einmal gehört hat, wird es immer wiedererkennen, nach wenigen Tönen nur, das hat es gemeinsam mit Beethoven-Sonaten oder Chopin-Nocturnes. Aber es ist eben kein durchkomponiertes Werk (von der Zugabe abgesehen), sondern es entsteht beim Spielen und Zuhören.

Im Publikum saß auch Matthias von Welck, heute Geschäftsführer der Kölner Jazz Haus Initiative. Was da passierte, habe ihn, damals 18 und Musikstudent, gepackt, sagt er. Und beteiligt war nicht nur Jarrett, sondern auch das Publikum: «Es war eine ungeheure Spannung. Man muss sich vorstellen: In ein Opernhaus kommt ein Jazzpianist. Er hat die Leute richtig mitgenommen, auf eine Reise.»

Das meint auch Brandes, die es heute auch musikmedizinisch erklärt. Jarrett und die Zuhörer seien gleich getaktet gewesen nach den ersten Minuten: «Da fällt von den Leuten etwas ab, und diese Magie hat es heute noch.»

Die Zahl der verkauften Platten, CDs und Downloads des Köln Concert geht auf die vier Millionen zu. Dass es Kult wurde, hat ihm auch Spott eingetragen. Es sei die bestverkaufte Jazz-Solo-Platte, weil es eben eine Pop-Platte sei, lautet ein Vorwurf. Von Welck hält von solchen Schubladen nicht viel. «Ich habe es zu dem Zeitpunkt einfach genossen, diese Musik zu hören. Es war in der Tat sehr anhörbar. Aber ich finde das nicht schlimm - jedes zu seiner Zeit.»

Der letzte Ton in Köln verklang, die Tournee ging weiter. «Wir sind mit dem Auto gefahren, und Keith Jarrett und ich haben immer wieder das Konzert über den Kassettenrekorder im R4 gehört», erzählt Eicher. Irgendwann fiel die Entscheidung, das Köln Concert zu auf Platte zu pressen, die eigentlich doch flüchtige Improvisation zu konservieren.

Vierzig Jahre später gibt es sogar eine wissenschaftliche Studie über das Konzert (von Peter Elsdon) - und viele Legenden. Eine betrifft die ersten Töne. Jarrett zitiere den Pausengong der Oper, lautet eine (dabei hatte sie eine Klingel). Oder ein Glockenspiel? Filmmusik?. Eicher ist sicher, woher diese Töne kamen: «Von ihm selbst. Keith versucht immer, sich von allen Einflüssen freizumachen, bevor er auf die Bühne geht, vor allem bei Solokonzerten.» 

Jürgen Hein

 

«Das war Neuland» - Produzent Manfred Eicher über Keith Jarrett

Interview: Jürgen Hein, dpa

Frage: Einerseits gilt das Köln Concert als meistverkaufte Solo-Jazz-Platte, andererseits sagen Kritiker, das liege daran, dass es eigentlich Popmusik ist. Wie sehen Sie das?

Antwort: Es ist sicher keine traditionelle Jazz-Platte, sondern es ist eine Platte von Keith Jarrett. Er hat in den 70er Jahren eine Musik entwickelt, die über die Grenzen weist.

Frage: Haben Sie als Produzent damals sofort gemerkt, dass da etwas Außergewöhnliches passiert?

Antwort: Das Konzert war außergewöhnlich, weil es auch einen anderen Ansatz hatte als die anderen Konzerte vorher und nachher. Keith war in einer unglaublich guten Spiellaune, obgleich er am Nachmittag haderte mit dem Instrument. Der Stimmer hat aber alles getan und den Flügel für das Konzert so gut gestimmt, wie es möglich war - und dann hat Keith ein wunderbares Konzert gespielt; danach haben wir schon gewusst, dass es ein besonderes ist.

Frage: Stimmt es denn, dass Keith Jarrett sich beim Flügel auf die tiefen und mittleren Töne beschränken musste?

Antwort: Das würde ich so nicht sagen. Keith entwickelt immer eine Affinität zu seinem Instrument und findet heraus, was es ihm zurückgibt. Und an diesem Abend hat er mit diesem Flügel ein sehr gesangliches Konzert gespielt, mit Themen, die Bestand haben. Das war ein Konzert mit einem weiten Bogen.

Frage: Vor über 20 Jahren hat Jarrett im «Spiegel» mal gesagt, man solle Aufnahmen wie die aus Köln einstampfen, damit nicht Konserven wichtiger werden als Live-Musik. Ist da was dran?

Antwort: Keith wird immer festgelegt auf das Köln Concert, auch heute noch. Er hat sich pianistisch und musikalisch seitdem weiterentwickelt, und niemand wird gerne festgelegt auf das, was er schon früher gemacht hat. Uns hat er nie gesagt, dass es eingestampft werden soll oder dass wir es nicht mehr im Katalog führen sollen.

Frage: Anfang der 70er Jahre waren solche großen Soloimprovisationen Neuland, oder?

Antwort: Vor allem in dieser Form. Das waren ja integrale Konzerte. Keith Jarrett hat diese langen Sets gespielt, nicht unter 45 Minuten oder einer Stunde, ohne Pause, mit diesen Wellenbewegungen, diesen Brüchen, die dabei entstanden. Damit hat er eine ganz besondere musikalische Konzeption entwickelt - das war damals Neuland.

Frage: Aber wie kann es sein, dass das Publikum so offen war für derartig Neues, dass das Köln Concert einen solchen Erfolg hatte?

Antwort: Vielleicht hat das Publikum gespürt, dass es immer ein sehr großes Risiko ist, ein solches Konzert aus dem Nichts heraus zu spielen und etwas zu entwickeln, und hat sich davon in den Bann ziehen lassen.

Frage: Das Köln Concert wurde transkribiert, man kann es als Notenheft kaufen - sollten Pianisten es auch aufführen wie ein klassisches Werk?

Antwort: Ich möchte es lieber nicht hören.

ZUR PERSON: Manfred Eicher (71) gründete 1969 das Label ECM Records, dessen Geschäftsführer er bis heute ist, gemeinsam mit Karl Egger. Außer von Keith Jarrett veröffentlichte er auch Musik von Jazz-Größen wie Jan Garbarek, Chick Corea oder Pat Metheny.



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