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Musik der Gegenwart

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Der Nachwuchs blüht unter Kleinlabels
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Not macht erfinderisch – diese Volksmeinung verheißt Patentlösungen. Aber für die Schallplattenindustrie existieren sie schon lange nicht mehr. Die großen Firmen haben sich zugrun- de rationalisiert und oft die Eigentümer gewechselt. Labels wurden aufgegeben, Produktionen eingestellt, Vertragskünstler entlassen. Die Kleinlabels hingegen blühen, waren schon vorausschauend aktiv geworden. Nachwuchskünstler erhalten hier ihre Chance, neue Namen prägen sich ein. Es ergeben sich interessante Repertoire-Erweiterungen auf bis dato kaum ausgewerteten Programmfeldern. So kommen auch viele unbekannte, allenfalls flüchtig erwähnte Komponistennamen ins Gespräch. Einige seien hier benannt. Sie sind kaum als repräsentativ zu bezeichnen, stehen nur beispielhaft für andere, deren Zahl mittlerweile Legion ist.

Nehmen wir die Pianistin Alexandra Oehler, Jahrgang 1970, in Halle und Leipzig ausgebildet und Mitte der 90er mit einem Meisterklassendiplom in die künstlerische Freiheit entlassen. Sie hat bislang fünf CDs für das Label Ars Musici aufgenommen. Nach dem Einstieg mit Bachschen Partiten hießen ihre Komponisten Edward MacDowell, Eugen d’Albert, Teresa Carreño und Joseph Martin Kraus. Die Palette wirkt so überraschend wie uneinheitlich. Dass der Ausnahmepianist d’Albert ein vielfältiges kompositorisches Schaffen hinterlassen hat, war bekannt; dass seine zeitweilige Ehefrau Teresa Carreño komponierte, wusste man weniger. Alexandra Oehlers Einsatz für sie bei zwölf einzelnen Klavierstücken in der Chopin-Liszt-Tradition hat zum ersten Eintrag für die Komponistin im Bielefelder Katalog geführt. Die Probe ergibt: Man muss diese Musik nicht unbedingt kennen. Die von Joseph Martin Kraus hingegen um so dringlicher. Der wie Mozart 1756 geborene Miltenberger, der nur ein Jahr länger lebte als der Salzburger, erlebte seine fruchtbaren Jahre als Komponist am schwedischen Hof. Zwei je dreisätzige Sonaten, von Alexandra Oehler sehr energisch angegangen, belegen Kraus’ außerordentlichen Rang zwischen Scarlatti und Haydn.

Ins 18. Jahrhundert gehören auch Ivan Pratsch, Zeitgenosse Mozarts und Kraus’, und Johann Gottfried Müthel, der zur Generation des Mozart-Vaters Leopold gehört. Christophorus bringt beide Komponisten mit Einzel-CDs neu in den Katalog. Der Russe Pratsch, Petersburger Hofcompositeur, kannte offensichtlich Musik seiner Zeit. So übertrug er Mozarts Es-Dur-Klavierquartett mit ingeniösen Zutaten spielerischer Art in eine Fassung für zwei Klaviere. Hinzu kommen eine Klaviersonate und eine zu jener Zeit noch wenig übliche Cellosonate, von Mitgliedern des Petersburger Playel-Trios so energisch wie musikalisch-flexibel vorgetragen. Sie verdeutlichen Pratschs Niveau, das bruchlos zur Klassikszene Mitteleuropas aufschließt. Müthel, 1728 im holsteinischen Mölln geboren, war ein Kind des Sturm und Drang und mit dem Status des freien Komponisten als Lebensziel ein echter Zeitzeuge der Aufklärung. Die auf der CD von Zane Stradyna mit höchster künstlerischer Kompetenz dargebotenen Sonaten und Variationenzyklen wirken in der Art der subjektiven Ausdruckstechnik noch über den Bachsohn Philipp Emanuel hinaus bis in die Frühklassik.

Von Edouard Lalo, den Debussy hochschätzte, kennt man die Symphonie espagnol. Sony startet (mit Aufnahmen des Kölner WDR) eine Serie aller Violin-Orchesterwerke. Die vorliegende CD offeriert das erste Violinkonzert und kürzere fantasieartige Werke. Drei von ihnen erscheinen in ihrer Originalgestalt neu im Katalog. Man ermüdet beim Hören dieser Musik, denn der Stil wirkt gleichförmig, so dass man von einem Werk auf alle übrigen glaubt schließen zu können. Nicht anders ergeht es einem bei Ferde Grofé. Er machte sich einen Namen als Instrumentator von Gershwins Rhapsody in Blue. Selbst komponiert hat er, im Stil pompöser Filmmusiken, diverse Orchestersuiten, benannt nach Flüssen oder Landschaften Amerikas. Hollywood Suite und Hudson River Suite auf einer Naxos-CD sind Katalog-Novitäten. Sie wirken in Stil und Ausdruck auswechselbar.

Dieser Eindruck wiederholt sich bei einem Beispiel mit Musik unserer Gegenwart. Die schottische Komponistin Cecilia McDowall veröffentlicht auf einer CD des Labels Deux-Elles Kammermusik, überwiegend kurze Werke aus der Zeit zwischen 1985 und 2001. Alle orientieren sich ekletizistisch an Vorbildern von klassizistischer Spielmusik und klanglich bis zurück ins 19. Jahrhundert. Galway hat Stücke der Komponistin in sein gemischtes Flötenrepertoire aufgenommen.

Die Aufmerksamkeit für den Portugiesen Joly Braga Santos, der 1988 64-jährig starb, und seine vierte Sinfonie auf einer Marco Polo-CD lohnt sich mehr. Denn trotz unüberhörbarer Anlehnung an spätromantische Klangmuster – stellenweise scheint Respighi durchzuklingen – entwickelt Santos auf strikte Art persönliche Vorstellungen von der sinfonischen Form und ihrem Ausdruck, so dass ihm ein autonomer Stil zuzugestehen ist. Eine Bereicherung für Katalog und interessierte Hörer! Noch interessanter ist der Fall des Russen Miaskovsky (1881-1950), eines geistigen Vorgängers der jüngeren Prokofiew, Schostakowitsch und Khatschaturian. 1917 zum Umbau des sowjetischen Musiklebens mitherangezogen, fiel er mit Beginn der Stalinära ab 1928 in Ungnade und pflegte fortan einen gemäßigteren, dem sozialistischen Realismus verpflichteten Stil. Von seinen 27 Sinfonien ist wenig zu uns gedrungen. Seine Sechste (1921/23) mit über einer Stunde Spieldauer ist der legitime und gelungene Versuch auf den Fundamenten der russischen Musiktradition – auch Mahler dürfte ihm nicht unbekannt gewesen sein – eine Musik für das ernsthaft interessierte, nicht unbedingt vorgebildete Publikum zu komponieren. Der Pomp dieser Sinfonie beansprucht einen zu respektierenden Stellenwert und Neeme Järvi setzt sich mit einer ebenso impulsiven wie klanglich durchkalkulierten Darstellung für Autor und Werk ein.

Diskografie

Teresa Carreño: Klavierwerke; Alexandra Oehler (Klavier)
Ars Musici/Freiburger Musik Forum Freiburg AM 1258-2

Ferde Grofé: Hollywood Suite, Hudson River Suite, Death Valley Suite; Bournemouth Symphony Orchestra, William Stromberg
Naxos 8.559017

Joseph Martin Kraus: Klavierwerke; Alexandra Oehler (Klavier)
Ars Musici/Freiburger Musik Forum Freiburg AM 1326-2

Edouard Lalo: Werke für Violine und Orchester, Vol.1; Thomas Christian (Violine), WDR Rundfunkorchester, Stefan Blunier
Sony Classical SMK 89942

Cecilia McDowall: Piper’s Dream (Kammermusik für Flöte, Bläserensemble und Klavier); Emma Williams (Flöte), Richard Shaw (Klavier), Ensemble Lumière
Deux-Elles DXL 1033

Nikolai Miaskovsky: Symphonie Nr.5; Gothenburg Symphony Orchestra; Neeme Järvi
Deutsche Grammophon/Universal 471 655-2

Johann Gottfried Müthel: Klavierwerke; Zane Stradyna (Klavier).
Christophorus/Note 1 Heidelberg CHR 77247

Iwan Pratsch: Kammerkompositeur zu St.Petersburg; Playel-Trio.
Christophorus/Note 1 Heidelberg CHR 77250

Joly Braga Santos: Symphonische Variationen, Symphonie Nr.4; National Symphony Orchestra of Ireland, Álvaro Cassuto
Marco Polo/Naxos 8.225233

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