Bislang war das Terrain für Anbieter im Bereich des Streamings von „klassischer Musik“ definiert und überschaubar. Neben Grammofy, das allerdings nur ein sehr kleines Repertoire abdeckt, lag das Geschäft in erster Linie bei „Idagio“, einem mittlerweile ausgewachsenen Startup aus Berlin, das Ende 2015 in den Streaming-Markt eingestiegen ist.
Idagio gilt in diesem Zusammenhang als das Nonplusultra: ein sehr großer Katalog, eine ausgezeichnete Benutzerinnenführung, faire Kosten für Interpretinnen, Komponistinnen und Nutzerinnen. Die technische Qualität: vollkommen ausreichend. Dagegen steht nun Primephonic (ein niederländisch-amerikanisches Unternehmen mit Sitz in Amsterdam und New York), das erst seit August 2018 in den USA, Großbritannien und den Niederlanden startete und seit August 2019 auch den deutschen Markt bespielt sowie in über 150 weiteren Ländern zur Verfügung steht.
Der Katalog scheint bei Primephonic deutlich kleiner zu sein als bei Idagio. Große Orchester sind hier ebenso vertreten wie zahlreiche bekannte Labels. Genauso wie bei Idagio gibt es hier kuratierte Playlists, zum Beispiel des Emerson String Quartets oder des Dirigenten Donald Runnicles. Das gibt es bei Idagio auch. Gleichwohl setzt man dort auch besonders auf die Expertise von mehreren Musik-Liebhaberinnen oder -Kennerinnen. Daneben gibt es zahlreiche weitere Playlists bei Primephonic zu Stimmungen („Moods“), zu nationalen Musiklisten, zu Komponisten, zu Themen, zu Epochen/Stilen. Dabei herrscht bei den ausgewählten Stücken jedoch gerne das Stückwerk-des-Stückwerks-Prinzip vor. Von Schönbergs Streichsextett hört man da dann beispielsweise in der Liste „20th Century Essentials“ nur den Anfang. In diesem Fall wird der Werktitel ohne etwaig vorhandene Opuszahl genannt, der Untertitel fehlt komplett. Immerhin findet man über die Suchfunktion bei „Verklärte Nacht“ das gleiche Werk, eine andere Auswahl ergibt sich jedoch bei einer Suche unter Verwendung des englischen Titels „Transfigured Night“.
Werksuche
Damit ist man gewissermaßen im Betriebssystem und dem Herzstück der Klassik-Streaming-Angebote angekommen. Denn bekanntlich ist die Verwendung diverser Namen von gleichen Werken bei Komponistinnen mit unterschiedlicher Schreibweise die große Herausforderung für die Erforschung der Musikkataloge im Bereich der Klassik. Eine Suche nach „Xenakis Rebonds“ liefert bei Primephonic und Idagio jeweils zehn Treffer. Gut gelöst ist die Sortierung bei Primephonic. Die Ergebnisse lassen sich nach Popularität, Alter und Dauer sortieren oder alphabetisch. Die Ausgabe der Suchergebnisse ist dabei Geschmackssache. Aber nicht nur! Interessant wird es, wenn man „ungenaue“ Schreibweisen bei der Suche verwendet wie „6. Symphonie Tschaikovsky“. Da hat Idagio gegenwärtig eine deutlich bessere Trefferquote als Primephonic. Auf der Suche nach Musik von „Peter Michael Hamel“ liefert Primephonic zwei Stücke, Idagio dagegen zehn – der Umfang der Werkkataloge bei beiden Streaming-Anbietern scheint doch erhebliche Unterschiede anzuzeigen. Bei Eingabe von „Kaul“ findet Idagio schnell und präzise den Künstler und Komponisten (Michael Kaul), bei Primephonic läuft er in einer Liste irgendwo mit in der Liste der „Tracks“ zwischen einigen Sinfonien von Rosetti. Ein weiteres Beispiel: „Andriesem“ findet bei beiden Anbietern Hendrik sowie Louis Andriessen, hier hat Primephonic die Nase vorn in der Anzahl der Treffer aus dem Katalog, was vermuten lässt, dass das niederländisch-amerikanische Unternehmen speziell auch den niederländischen Markt priorisiert. Letztes Beispiel: „Richard Strauss Metamorphosen“ (Primephonic: 13 zu Idagio: 42 Treffer – in denen aber auch Doppelungen enthalten sind). Für den Fall, dass man bei gleichen Werken unterschiedliche Interpreten vergleichen möchte, ist die Benutzerinnenführung bei Idagio deutlich intuitiver und bequemer.
Kosten
Bei Primephonic wie bei Idagio kann man den Dienst monatlich buchen und ebenso kündigen. Bei Idagio ist man mit 9,99 Euro (Klangqualität: Lossless Audio) dabei und hat eine 14-tägige Testphase für die man aber seine Kontodaten oder eine Kreditkartennummer eingeben muss. Kündigt man nicht rechtzeitig, geht die Testphase in ein Abo über. Bei Primephonic kann man die 14-tägige Testphase ohne Angabe von Bankdaten nutzen. Die Abokosten gliedern sich nach der Art, in welcher Klangqualität man diesen Dienst verwenden möchte. Für „320kbps MP3 streaming“ werden 7,99 Euro, für „24-bit Lossless streaming“ 14,99 Euro fällig – die Testphase bietet die hohe Klangqualität. Beide Anbieter bieten Apps im App Store von Apple (IOs) und Google (Android) sowie für den Desktopbereich und für Downloads im Offline-Betrieb an.
„Je länger ein Musikstück gestreamt wird, desto mehr Geld erhält es,“ sagt Primephonic und genau auf die gleiche Weise handhabt es Idagio. Sie tragen damit dem Umstand Rechnung, dass im Bereich der klassischen Musik, anders als im Popbereich, die Stücke ja durchaus extrem unterschiedlich lang sein können. Spotify & Co rechnen dagegen trackbasiert ab. Nicht nur aus Gründen einer sinnvollen Suche nach Stücken aus dem Klassikbereich, sondern auch als Zeichen der Wertschätzung den Künstlerinnen gegenüber ist den beiden Klassikstreaming-Anbietern der Vorzug zu geben. Bei beiden Anbietern steht leider zur Zeit keine Funktion zur Einbindung ihrer Player auf anderen Websites zur Verfügung. Das ist nach wie vor schade, schränkt es deren Verbreitung dadurch doch ein.
Wie schon in anderen Fällen stellt sich die Frage, ob genügend Platz ist für zwei Dienste, die im Wesentlichen ja auf ähnliche Nutzerinnen abzielen. Idagio ist in Deutschland sicherlich der Platzhirsch, schon allein deshalb, weil man ein paar Jahre Vorsprung auf dem Markt hat. International sieht die Sache möglicherweise anders aus. Allerdings ist Idagio seit September 2018 auch auf dem englisch-amerikanischen Markt präsent und zudem seit Anfang des Jahres nicht nur auf deutsch, sondern auch auf englisch, spanisch und französisch. Seit Februar hat sich die Anzahl der App-Downloads bei Idagio von 1 auf 1,5 Million gesteigert (Angabe: Idagio), die Zahl, wie groß die Anzahl der Abonnentinnen ist, bleibt allerdings geheim. Konkurrenz mit positiven Konsequenzen für Künstlerinnen, Nutzerinnen? Die Frage muss offen bleiben, zumal niemand weiß, wie sich der Klassik-Streaming-Markt entwickeln wird.