Im Jahr 2007 wurde die erst zwanzig Jahre zuvor gegründete Verlagsgruppe Bertelsmann Music Group Publishing durch die weltweit operierende Universal Music Group übernommen. Damit wechselte der zu diesem Zeitpunkt drittgrößte Musikverlag der Welt mit etwa 550 Mitarbeitern den Besitzer. Verkauft wurden mit diesem Paket neben den Rechten für zahlreiche Pop-Titel auch fünf Verlage klassischer Musik, nämlich die ehrwürdige Casa Ricordi Mailand mit Tochterunternehmen in London und München, Durand-Salabert-Eschig Paris sowie Editio Musica Budapest. Ohne dies wirklich beabsichtigt zu haben verfügte damit die Universal Music, die bis dahin ausschließlich Popmusik verlegt hatte, über mehrere Klassik-Verlage.
Da die Universal zunächst unsicher war, in welchem Maße sie sich überhaupt in diesem Segment engagieren sollte, gewann sie 2008 die Musikwissenschaftlerin Silke Hilger als beratende Mitarbeiterin. Diese hatte 1991 in Bonn über ein Thema der zeitgenössischen Musik promoviert und danach als Head of Promotion bei Boosey & Hawkes in Berlin gearbeitet. Im kalifornischen Santa Monica am Sitz von Universal Music und Universal Music Publishing, dem größten Musikverlag der Welt, wurde Silke Hilger nun unter dreihundert ausschließlich im Pop-Bereich tätigen Mitarbeitern die einzige für Klassik zuständige Person.
Nach ausführlichen Beratungen entschied sich UM Publishing für ein dauerhaftes Engagement im Bereich der ernsten Musik. Vier der fünf neuerworbenen Klassik-Verlage gliederte die Universal Music Group auch räumlich ihren anderen Unternehmungen an. Zuletzt zog im August der Verlag Ricordi München, der bis dahin noch an seinem angestammten Platz geblieben war, von der Isar an die Spree. 2002 war die deutsche Universal von Hamburg in das moderne Gebäude am Flussufer gezogen, in dem nun Ricordi Berlin unter einem Dach mit weiteren Unternehmen der Universal wie Deutsche Grammophon und Universal Music Publishing residiert.
Der Wert der Kontinuität
Silke Hilger ist Nachfolgerin des langjährigen Verlagsleiters Reinhold Quandt, der weiter als Berater zur Verfügung steht. Angesichts der zurückliegenden Besitzerwechsel legt sie umso größeren Wert auf Kontinuität. Sie bedauert deshalb, dass nur ein einziges Mitglied des bisherigen Teams nach Berlin kam, obwohl allen eine Stelle am neuen Standort angeboten wurde. „Aber wenn jemand sich entscheidet, lieber in München zu bleiben, weil er dort verwurzelt ist aus familiären oder anderen Gründen, dann müssen wir das respektieren.“ Beim Umzug wurden keine Stellen eingespart. Jedoch muss das neue Personal sich erst einarbeiten, damit es denselben Wissensstand hat wie diejenigen, die in München schon seit Jahren dabei waren. Während in den Bereichen Urheberrecht und Finanzen im Haus bereits Personal zur Verfügung steht, wurde die neue Stelle eines Pressesprechers geschaffen, der auch die Kommunikation über neue soziale Medien übernimmt. Aus ihrer Tätigkeit in Santa Monica kennt Silke Hilger Twitter und Facebook und glaubt, dass damit die bei der Verlagsgruppe Universal Music Publishing Classical vertretenen Komponisten weltweit bekannt gemacht werden können.
Ricordi Berlin gehört zu dieser Verlagsgruppe, behält ansonsten aber die bisherigen Schwerpunkte bei. Das italienische Stammhaus, die Casa Ricordi, war ab 1808 der Originalverlag für Opernkomponisten wie Rossini, Donizetti, Verdi und Puccini. An diese Tradition knüpft der Berliner Verlag nicht nur mit neuen Bühnenwerken von Komponisten wie Peter Eötvös, Heiner Goebbels, Emmanuel Nunes oder Enno Poppe an, sondern auch durch eine kritische Gesamtausgabe der Werke von Simon Mayr. Sie wurde in diesem Jahr zum 250. Geburtstag des aus Bayern stammenden „Vaters der italienischen Oper“ mit der Edition seiner Oper „Medea in Corinto“ eröffnet. Die Ausgabe der Werke Giacomo Meyerbeers wird demnächst mit der lyrischen Rhapsodie „Gott und die Natur“ fortgesetzt. Weitere kritische Editionen betreffen die vom NS-Staat verfolgten Komponisten Karel Reiner und Alexander Zemlinsky.
Zeitgenössische Musik
Der 1901 in Leipzig gegründete deutsche Ricordi & Co. Bühnen- und Musik-Verlag, der 1945 nach München wechselte, hat beim Musikpädagogik-Schwerpunkt die Lizenzrechte vollständig an die amerikanische Firma Hal Leonard übertragen. Dagegen hat er in den letzten Jahren den Anteil der zeitgenössischen Musik beträchtlich erweitert und verfügt heute über mehr als 2.000 Werke von fast 200 Komponisten, darunter beispielsweise Vinko Globokar, Peter Eötvös, Olga Neuwirth und Rolf Riehm. Leider hat sich Michael Zwenzner, der diese Komponisten über viele Jahre betreut hatte, nicht zum Wechsel nach Berlin entschließen können. An seiner Stelle sind nun die Musikwissenschaftler Silke Hilger und Till Knipper für die Komponistenbetreuung verantwortlich. Dazu die Verlagsleiterin: „Das Schöne am Standort Berlin ist auch, dass so viele Komponisten hier wohnen. Samir Odeh-Tamimi, Sergej Newski, Olga Neuwirth, Ali N. Askin, Enno Poppe – das sind Komponisten, mit denen ich mich bereits getroffen habe.“
Die in einer Pressemeldung geäußerte Befürchtung, nach dem Umzug werde es eine „Bereinigung des Portfolios“ zulasten von wenig profitablen Verlagssegmenten geben, hält sie für unbegründet. Allerdings sei der Verlag kein Non-profit-Unternehmen und müsse auf Wirtschaftlichkeit achten. „Daher müssen wir sehen, wer Sachen komponiert, die einigermaßen profitabel sind. Wir werden aber keinen Komponisten vor den Kopf stoßen und sagen, wir werden nie mehr etwas von ihm verlegen.“
Dem Eigentümer, der Universal wie auch der übergeordneten französischen Vivendi-Mediengruppe, sei bewusst, dass der Klassikbereich – anders als die Popbranche – auf Langfristigkeit ziele. „Wir müssen also auf jeden Fall die nächsten 10 bis 20 Jahre immer im Blickfeld behalten und langfristig denken.“ Die Aufnahme neuer interessanter Komponisten ist dabei nicht ausgeschlossen.
Silke Hilger zufolge haben die Eigentümer den Wert langfristiger Investitionen erkannt und sind entschlossen, solche im Klassik-Bereich zu tätigen. Immerhin ist Universal Music Publishing Classical, wozu auch Ricordi gehört, die weltweit führende Verlagsgruppe für klassische Musik.
Neben den Einkünften aus urheberrechtlich geschützten Werken spielen bei dieser Entscheidung auch die Einkünfte aus Leihmaterial eine Rolle. Dazu gibt es einen Leihbibliothekar in Berlin und einen zweiten nur für den deutschsprachigen Raum zuständigen Bibliothekar in Mailand, dem zentralen Lager aller Ricordi-Verlage. Die Einnahmen aus dem Pop-Bereich sind zwar beträchtlich höher, aber immerhin mache „Classical“ etwa 10 Prozent des Gesamtumsatzes aus. „Das ist eigentlich ganz stattlich.“
Erhoffte Synergien
Zu den Synergien, die der Berlin-Umzug dem Verlag bringen soll, gehören neben den kürzeren Kommunikationswegen die besseren Kooperationsmöglichkeiten mit dem Tonträger-Segment von Universal. Silke Hilger verweist in diesem Zusammenhang auf eine Porträt-CD mit Werken des bei Salabert verlegten Komponisten Pascal Dusapin. Solche Schnittpunkte mit Künstlern der Deutschen Grammophon sollen weiter ausgebaut werden. Auch mit dem Artist Management der Universal Music Group, die überwiegend Opernsänger vertritt, will man zusammenarbeiten. „Zum Beispiel hat eine der Sängerinnen gerade bei den Salzburger Festspielen zwei unserer Werke uraufgeführt.“ Von ihrem neuen Büro blickt die Verlagsleiterin auf die Spree und den roten Backsteinbau der Oberbaumbrücke. Sie will von hier aus nicht zuletzt die großen Berliner Orchester, die Opernhäuser und Musikfestivals für „ihre“ Komponisten gewinnen. „Ich werde auf jeden Fall, sobald ich mit meinen Komponistenbesuchen durch bin, Besuche starten mit den Verantwortlichen in der Kulturpolitik und auch den anderen Kulturinstitutionen. Da wird sich hoffentlich auch einiges tun.“ Als Vorbild nennt sie die Casa Ricordi in Mailand, die mit einem Orchester kooperiert und mit dem Label Chandos jedes Jahr eine CD mit unbekanntem Material aus dem Repertoire der Casa Ricordi herausbringt.
Das Ricordi-Archiv
Für die Ausstellung mit Originalnoten der Verdi-Opern „Otello“ und „Falstaff“, welche Bertelsmann im September in seiner Hauptstadtrepräsentanz zeigt, ist sie allerdings nicht verantwortlich. 2007 hatte Bertelsmann zwar die Ricordi-Verlage an Universal verkauft, jedoch das große Mailänder Ricordi-Verlagsarchiv mit seinen mehr als 100.000 Archivalien, darunter 7.800 Originalpartituren von mehr als 600 Opern, behalten. Dieses Archiv soll nun nach und nach katalogisiert, auf digitale Träger gespeichert sowie, wo notwendig, restauriert werden. Der Verkauf von Ricordi an Bertelsmann war 1994 in Italien als nationale Katastrophe empfunden worden. Da Ricordi München in den dreizehn Bertelsmann-Jahren viele feste Stellen hatte einsparen müssen, hatte 2007 der erneute Besitzerwechsel verständlicherweise für Unruhe gesorgt. Auch vom Umzug nach Berlin wurde eine Zunahme des Rentabilitätsdrucks befürchtet.
Inzwischen zeichnet sich aber ab, dass die neuen Besitzer die gewachsenen Traditionen stärker respektieren wollen, als zunächst abzusehen war. Zu hoffen bleibt, dass es nun bei den Ricordi-Verlagen wieder zu jenem langen Atem kommt, der im Bereich der ernsten Musik so lebensnotwendig ist. Seriöse Komponisten sollten die Abkürzung „umusic“ für Universal Music jedenfalls nicht von vorneherein als schlechtes Omen werten.