Braunschweig. Ein Besuch in der alten Welfenstadt Heinrichs des Löwen verdient der Personen und Sache wegen die Beachtung weiterer Fachkreise. Ein großer Personenkreis der Berliner staatlich akademischen Hochschule für Musik kam hierher, um die Pianofortefabrik Grotrian-Steinweg und deren neueste Errungenschaften kennen zu lernen.
Vor 100 Jahren – Musikbriefe
Unter sachkundiger Führung wurde das Sägewerk, die Zweigfabriken und schließlich die Hauptfabrik besichtigt. Es war ein Genuß, zu beobachten, wie hier eins ins andere greift, eins durchs andere wächst und reift. Großes Interesse boten die gewaltigen Säle für die Tischlerei, besonders die Untersuchung und Auswahl der Hölzer nach wissenschaftlichen Grundsätzen für homogene Resonanzböden. Die größte Neugierde und Anziehungskraft erregte das geheimnisvolle Vierteltonklavier. Dasselbe besteht aus zwei durch einen Vorbau verbundenen Konzertflügeln, deren einer auf Kammerton, der andere einen Viertelton höher gestimmt ist. Ein mechanisches Hebelwerk im Innern ordnet die Töne nach Vierteltönen ein, die Klaviatur ist dementsprechend um eine Reihe rotbrauner Tasten vermehrt. Die weißen Untertasten sind etwas auseinandergerückt, doch kann der Spieler eine Oktave bequem greifen, die Spieltechnik wird jedoch schwieriger als bisher. Jeder Viertelton ist deutlich wahrnehmbar. Über die praktische Verwendung gingen die Ansichten weit auseinander, die älteren Beurteiler äußerten sachliche Bedenken, die jüngeren waren Feuer und Flamme, konnten sich von dem Wunderwerk gar nicht trennen. Einstimmiges, begeistertes Lob ernteten die homogenen Flügel, besonders auch solche mit „kavierten“ Obertasten, die ein Abgleiten der Finger verhüten. Das neue Volksklavier, dessen Preis sich auf ein Drittel desjenigen eines gewöhnlichen Pianinos stellt, soll noch weiter verbessert werden, bevor es an die Öffentlichkeit tritt.
Das allgemeine Urteil der maßgebendsten Richter ging dahin, daß sich hier dem Klavierbau, also auch der Musik ganz neue Wege und Aussichten erschließen. Die Güte der Instrumente wurde nachmittags und abends nach zwei Seiten hin erprobt. Max v. Pauer spielte Beethovens Sonate (e moll), kleinere Stücke von Schubert und schloß mit der großen Fantasie (C dur) von Schumann, Paul Schramm stellte ihm abends eigene Werke und solche von Debussy entgegen; jener erzielte höchsten Wohl laut, dieser entwickelte außergewöhnliche Kraft: beide ernteten stürmischen Beifall. Lehrreich war ferner ein Vortrag von Dr. Kurt Grotrian über die Entwicklung des Klavierbaues, der durch eine reiche Ausstellung der verschiedensten Instrumente vom Spinett und Klavichord bis zum homogenen Konzertflügel unterstützt wurde. Das von Steinweg 1835 gebaute erste Tafelklavier stand neben dem Flügel, den Clara Schumann stets benutzte. Der nächste Tag sah die Gäste in der Gartenstadt Wolfenbüttel, deren literarische und musikalische Schätze im Zentralarchiv und in der Bibliothek, der Arbeitsstätte Lessings, Staunen erregten. Ein Ulfilas-Fragment, Handschriften, Urkunden von Karl dem Großen an, Meßbücher in Neumen und Hufnägelnoten birgt selbst die Berliner Bibliothek nicht in solcher Fülle.
E. St., Neue Musik-Zeitung, 45. Jg., Mai 1924, Heft 2
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