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Sven Helbig mit dem Vokalconsort Berlin im Rahmen des Reeperbahnfestivals 2016 . Foto: Michael Ziethen
Sven Helbig mit dem Vokalconsort Berlin im Rahmen des Reeperbahnfestivals 2016 . Foto: Michael Ziethen
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Wenn die Klassik Neue Meister sucht

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Berlin Classic legt ein neues Label mit zeitgenössischen Kompositionen auf
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Mit minimalistischen Pianomelodien, Streicherarrangements und Elektronika auf Federico Albaneses Album „The Blue Hour“ startete das in Berlin ansässige Label „Neue Meister“ Anfang 2016 als Sublabel von Berlin Classics mit einer dezidierten Vision für eine neue CD-Reihe: Einen Überblick über das Schaffen junger zeitgenössischer Komponisten zu geben, die mit ihren Projekten verschiedener Stilrichtungen auf dem Label vereint präsentiert werden. Ziel war es, ihnen damit eine angemessene Plattform in der Öffentlichkeit respektive auf dem Markt zu bieten.

Es folgten Produktionen wie Johannes Motschmanns „Electronic Fields“, Christian Josts Suche nach magischen Momenten in der „BerlinSymphony“ oder Tama Halperins Album „Satie“.

Die verschiedenen Publikationen des Labels liegen stilistisch weit auseinander. „Wir haben kein Manifest oder keinen Zehn-Punkte-Plan, nach welchen Kriterien wir veröffentlichen“ sagt der Director of Content&Creative des Labels, Christian Kellersmann. Es geht um geschriebene Musik und kompositorische Qualität. Ansonsten sind der Musik keine Grenzen gesetzt: Einflüsse aus der Elektronik, dem Jazz oder aus Weltmusik und verschiedenen Kulturkreisen sind keine Hindernisse. Hier geht es um neue Stücke mit innovativen Ideen und nicht allein um die Interpretation schon hundertfach eingespielter Werke, wie es bei vielen klassischen Produktionen der Fall ist. Das ist risikoreich und erfordert Mut, nicht jede Einspielung wird ein Erfolg – manches bleibt eben ein Experiment. Ein gelungenes Produkt lieferte in der Vergangenheit zum Beispiel Max Richter mit seinem Recomposed-Werk auf Deutsche Grammophon, für die Kellersmann früher tätig war. Max Richter hatte 2013 mit seiner „Vier Jahreszeiten“-Bearbeitung und Anleihen von Minimal Music „Vivaldi kernsaniert“, sagt Kellersmann mit einem Augenzwinkern. Eingespielt wurde es von Daniel Hope, Dirigent André de Ridder und dem Konzerthausorchester Berlin.

Christian Kellersmann glaubt, in Deutschland ein problematisches Verhältnis des Publikums der zeitgenössischen Musik gegenüber ausgemacht zu haben. Experimentelle avantgardistische Festivals wie Donaueschingen oder Darmstadt würden nur ein ganz bestimmtes, eingeschränktes Klientel ansprechen. Seine „Neuen Meister“ glauben, dass genau jetzt der Zeitpunkt da ist, um Türen zu öffnen und ein neues, kulturell offenes und musikaffines Publikum zu erreichen, das im Mediendschungel im Normalfall gar nicht auf ihre Musik stoßen würde. Die erste Runde im Kampf um die neue Publikumsgeneration kann also eingeläutet werden, denn auch größere Player wie die Donaueschinger Musiktage steigen dieses Jahr mit einem Techno-Konzert in der Donaueschinger Tanzschule ins Rennen ein. Im Buhlen um die neue Klassik-Generation liegen in diesem konkreten Fall die „Neuen Meister“ nach Punkten vorne, denn Interessierte müssen nicht in ein abgelegenes Städtchen im südwestlichen Baden-Württemberg reisen, sondern die Musik kommt zu ihnen. Bestes Beispiel dafür war die Labelnacht der „Neuen Meister“, die am 23. September 2016 im Rahmen des Reeperbahnfestivals, einem der größten Club-Festivals in Deutschland, im Resonanzraum auf der Feldstraße stattfand. Manch einer in Hamburgs Hipster-Oase schlechthin fragte sich vielleicht mit einem Vodka-Mate in der Hand: „Was ist das für 1 Musik?“. Kellersmanns Glaube an ein interessiertes „laienhaftes“ Publikum, das nur noch nicht auf zeitgenössische Musik gestoßen ist, scheint sich dort bestätigt zu haben.

Die beiden Neuerscheinungen, die im Hamburger Resonanzraum ihre Uraufführung hatten, stehen in ihrer Art und Diversität stellvertretend für die musikalische Note des Labels. In „ÜberBach“ wagt sich der junge Komponist Arash Safaian mit neun Stücken in heikle Gefilde: Kompositionen über Themen von Johann Sebastian Bach hat er geschrieben, mit dem Anspruch „Bach in seiner „natürlichsten Art und Weise – wie er heute klingen würde“ darzustellen. Der junge Nachwuchskomponist wählt barocke Choralstücke, Orchesterwerke und Klaviermusik aus, die er rekomponiert und durch neue Arrangements verändert. Herausgekommen sind fünf Konzerte für Klavier, Vibraphon, Synthesizer und Kammerorchester, die eher an Filmmusik erinnern, um dann doch wieder zu Bachs ursprünglichen klaren Themen zurückzufinden. An der Schnittstelle von Barock und Clubmusik bildet der musikalische Diskurs von alter und moderner Musik einen interessanten Spannungsbogen.

Auch Sven Helbig ist mit seiner Chormusik für das 21. Jahrhundert bei den „Neuen Meistern“ zu verorten. Mit seinem ersten Projekt, den „Pocket Symphonies“, bot der Komponist 2013 einen Lösungsvorschlag zu einem häufig diskutierten Problem der Klassik-Industrie: Sinfonien sind komplexe Werke und sollten eigentlich als ganzes Werk gehört oder im Radio gespielt werden, damit die Zusammenhänge und der Werkcharakter erkennbar bleiben. In unserem kurzlebigen und schnellen Alltag hat dafür aber fast niemand mehr Zeit und Muße. Helbigs Lösung sind kleine Stücke, die für den Weg zum Bäcker oder in der U-Bahn gedacht sind, nur drei Minuten lang – endlich klassische Musik zu Ende hören können und nicht auf halber Bruckner-Sinfonie schon bei der Arbeit angekommen zu sein – „Klassik Radio“ als Kompositionskonzept. „I eat the sun and drink the rain“ ist die konsequente Weiterentwicklung dieser Idee. Auf seinem neuen Konzept-album mit dem Vocalconsort Berlin unter der Leitung von Kristjan Järvi existieren die Grenzen zwischen der klassischen Orchesterwelt, experimenteller Kunst und Popmusik nicht mehr. Minimalistische Drone-Music, volksliedhafte Stücke und feine harmonische Verwebungen tragen den Hörer durch zehn Stücke, in denen es programmatisch um menschliche Hoffnungen und Sehnsüchte in einer aus den Fugen geratenen Gegenwart geht.

Das Label „Neue Meister“ versucht mit seinen Publikationen progressive Wege zu gehen, um aus der Schnittmenge von Elektronik, Klassik und populärer Musik einen ganz neuen Markt, auch neben den Konzerthäusern, zu generieren und lässt dabei nie eine gewisse Lockerheit und freche Attitüde vermissen. Ob sich die Risikobereitschaft auszahlt und das ein oder andere Experiment auch in Zukunft gelingt, bleibt abzuwarten.

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