Zur Grundsteinlegung am 22. April 1911 haben die Erbauer des Festspielhauses von Hellerau keinen Weitblick bewiesen. Sonst wären sie darauf gekommen, dass die 100-Jahr-Feier auf einen Karfreitag fällt. Alles vermeintlichen Trennung von Staat und Kirche zum Trotz sind öffentliche Feiern an so einem Tag verboten. Aber was heißt hier keinen Weitblick? Aus der Gesamtidee von Gartenstadt, Deutschen Werkstätten und Festspielhaus ist ein lebendiges Konglomerat geworden, das an jedem Tag gefeiert werden sollte!
Das waren noch Zeiten! Gerade mal ein halbes Jahr nach der Grundsteinlegung soll es die ersten Veranstaltungen des Festspielhauses Hellerau gegeben haben, die Fertigstellung erfolgte im Herbst 1912. Heute würde das nicht mal für den Bauantrag ausreichen.
Pünktlich zum 100. Jahrestag stellte der Intendant des Europäischen Zentrums der Künste, Dieter Jaenicke, gemeinsam mit zahlreichen Kooperationspartnern ein umfangreiches Programm vor, mit dem an die Gründungsideen der Gartenstadt Hellerau und der Deutschen Werkstätten erinnert werden soll. Beide wurden Anfang 1909 vor den Toren von Dresden angelegt und sollten getreu den lebensreformerischen Ansätzen Wohnen, Arbeit, Kultur und Bildung miteinander verbinden. Die Errichtung des Festspielhauses war da nur eine logische Konsequenz. Wie bewegt dessen Geschichte werden sollte – aus der ursprünglichen Avantgarde-Stätte um Émile Jaques-Dalcroze, Adolphe Appia, Paul Claudel und Architekt Heinrich Tessenow wurde 1939 eine Polizeischule und nach 1945 eine Kasernenanlage der Roten Armee –, war seinerzeit gewiss unvorstellbar. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1992 konnte endlich an die mit diesem Gebäudeensemble verbundenen Ideale angeknüpft werden, allmählich zogen wieder die Künste hier ein. Seit 2002 residierte das vom Komponisten Udo Zimmermann gegründete und geleitete Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik hier ein, aus dem später das Europäische Zentrum der Künste hervorging, dessen Leitung Jaenicke 2009 übernahm.
Der freut sich jetzt schon auf das absehbare Ende der Bauarbeiten am Festspielhaus, voraussichtlich im Oktober sollen die letzten Gerüste fallen. Die einst als „Grüner Hügel der Moderne“ gepriesene Anlage werde aber nicht nur auf die eigene Geschichte zurückblicken – Hellerau sei „kein Museum seiner selbst“, so der Intendant –, sondern den Auftrag als Laboratorium ernst nehmen. Damit könne getrost auf die kommenden 100 Jahre zugegangen werden, meint Jaenicke.
Er setzt für seine auf die nächsten 12 bis 14 Monate geplante Jubiläumsspielzeit „100 Jahre Hellerau“ auf intensive Kooperationen mit den vor Ort ansässigen Kulturpartnern (Tanztheater Derevo, Forsythe-Company, Institut Rhythmik e.V., Trans Media Akademie) sowie mit den Dresdner Hochschulen für Musik, bildende Künste und Tanz (Palucca), nicht zuletzt mit dem Tanzarchiv Leipzig und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen.
Programmschwerpunkte sind schon bald Derevo-Performances, mit denen sowohl an die erste Hellerauser Produktion des aus St. Petersburg stammenden Ensembles erinnert als auch ein Ausblick auf dessen neue Sichten vorgenommen werden soll. Im Sommer folgen die Internationale Rhythmikwerkstatt, später das Festival Cynetart und dazu wechselnde Ausstellungen, Projekte und Installationen. Gänzlich wird das Erinnern an so historischem Ort natürlich nicht ausgeklammert – mit Rekonstruktionen soll der Tänzerinnen und Choreografinnen Marianne Vogelsang, Mary Wigman und Dore Hoyer gedacht werden.
Bei allem Blick auf die eigene Geschichte erweist sich das Hellerau von heute von erstaunlichem Weitblick. Aber das war in der Grundidee dieser ersten deutschen Gartenstadt wohl doch schon so angelegt. Übrigens: Die 200-Jahrfeier fällt auf einen Mittwoch.