Duisburg - Wer Musik und Theater eher klassisch liebt, für den dürfte die Ruhrtriennale eine ziemlich große Herausforderung darstellen. Das Festival unter dem experimentierfreudigen Intendanten Heiner Goebbels hat mit dem, was Augen und Ohren gewohnt sind, wenig zu tun. Da sind Musikinstrumente schon mal selbst gemacht und heißen «Flaschenkürbis-Baum» oder «Wolken-Zimmer-Schale». Theaterzuschauer meinen plötzlich im Büro eines Rüstungsmanagers oder im nächtlichen Islamabad zu stehen.
Vom 23. August bis 6. Oktober werden quer durch das Ruhrgebiet ehemalige Zechen, Stahl- und Walzwerke und Maschinenhallen wieder zur Bühne für die Avantgarde. Aus 150 Veranstaltungen - darunter 20 Ur- oder Erstaufführungen - können die Besucher wählen. Es ist die zweite und damit vorletzte Saison für Intendant Goebbels. Ab 2015 leitet der niederländische Theatermann Johan Simons, derzeit noch Intendant der Münchner Kammerspiele, die Ruhrtriennale. Dann dürfte der Akzent wieder mehr auf Theater liegen, während Goebbels für musikalische Experimente steht.
Schon zur Eröffnung am 23. August beweist Goebbels seinen Mut zum Außergewöhnlichen: In der Bochumer Jahrhunderthalle inszeniert er die europäische Erstaufführung des Werks «Delusion of the Fury» des selten gespielten US-Komponisten Harry Partch (1901-1974). Dafür wurden von Partch erfundene ziemlich verrückte Instrumente mit so kuriosen Namen wie «Blauer Regenbogen» oder «Eukal-Blüte» nachgebaut. Die Hauptrolle in dem Ton- und Geräuschwerk, das man frei mit «Enttäuschung des Zorns» übersetzen könnte, übernehmen die Musiker des Ensembles musikFabrik, die 25 Partch-Instrumente neu erlernten.
2012 lockte die erste Ruhrtriennale-Saison unter der Leitung von Goebbels rund 50 000 Besucher ins Revier. Die Veranstaltungen waren zu 85 Prozent ausgebucht. Auch in diesem Jahr laufe der Vorverkauf wieder hervorragend, teilt das Ruhrtriennale-Büro mit. Die großen Premieren, zu denen auch Helmut Lachenmanns Oper «Das Mädchen mit den Schwefelhölzern» in der Regie von Robert Wilson gehört, sind zwar ausverkauft. Für die anderen Aufführungen sind zumeist aber noch Karten zu haben.
Die Ruhrtriennale setzt auch auf eine Verjüngung des Publikums. So erkundet Goebbels die Ränder des Pop, indem er die britische Kultband Massive Attack einlud. Natürlich spielt die Band um Robert del Naja kein gewöhnliches Konzert. Rund 2000 Zuschauer werden in der Duisburger Kraftzentrale umgeben von Gaze-Großleinwänden stehen, auf denen zur Musik dokumentarische Filmsequenzen des provokativen britischen Filmemachers Adam Curtis zu sehen sind. Eine «kollektive Halluzination» verspricht del Naja. Drei Aufführungen waren sofort ausverkauft, so dass die Ruhrtriennale eine vierte ansetzte.
Kunst, Performance, Installation - die Grenzen verschwimmen. Die preisgekrönte Theatergruppe Rimini-Protokoll hat mit ihrem Videostück «Situation Rooms» ein Labyrinth für jeweils 20 Zuschauer entwickelt, die ausgerüstet mit Bildschirmen und Kopfhörern zu Verfolgern und Verfolgten in einer Welt des Terrors, der Kriege und der Flüchtlingsströme werden. Ist das eine Art Computerspiel im Theater oder multiples Simultankino?
Der japanische Komponist und Künstler Ryoji Ikeda lässt die Menschen über einen Teppich von flackernden Schwarz-Weiß-Barcodes laufen. Der Choreograph William Forsythe versetzt 400 Pendel im Museum Folkwang in Schwingung, und die Besucher sollen durch diese unberechenbare Situation hindurchwandern.
«Wir wollen die Zuschauer ins Zentrum rücken, nicht von der Bühne herunterspielen», hatte Goebbels angekündigt. Nicht alle furiosen Pläne konnten aber realisiert werden. So kann das geplante Finale der Ruhrtriennale mit einem «Knochenstaub»-Tanz zu Strawinskys «Le Sacre du Printemps» nur konzertant aufgeführt werden. Die von Romeo Castellucci geplante Technik für den Knochenstaub war zu kompliziert und konnte nicht rechtzeitig hergestellt werden.
Bei so vielen Experimenten ist es erfrischend, dass Goebbels auch kritische Blicke zulässt. Die offizielle Festivaljury sind Kinder aus dem Ruhrgebiet. Sie verleihen am Ende der Ruhrtriennale Preise. Letztes Jahr wurden zum Beispiel die mädchenhafteste Show, das peinlichste Kostüm und «Die größte Qual für die Ohren» gekürt.
Dorothea Hülsmeier
Höhepunkte der Ruhrtriennale
MUSIKTHEATER
- «Delusion of the Fury» von Harry Partch: Für die musikalische Umsetzung seines eigenen Tonsystems entwickelte der US-Komponist neue Instrumente, die für die Produktion nachgebaut wurden. Regie führt Ruhrtriennale-Intendant Heiner Goebbels.
- «Das Mädchen mit den Schwefelhölzern» von Helmut Lachenmann: Der Komponist hat in seiner einzigen Oper Andersens Märchen in ein außergewöhnliches Klangerlebnis übersetzt. Regisseur Robert Wilson setzt das Werk in einem besonderen Raumkonzept in Szene.
- «Stifters Dinge - Performance»: Intendant Goebbels hat ein Musik- und Performance-Stück ohne Protagonisten entwickelt. Im Zentrum stehen Dinge, die im Theater sonst nur Requisite sind.
KUNST
- «test pattern (100 m version)»: Der japanische Künstler Ryoji Ikeda stellt eine begehbare Installation aus rapide wechselnden und unter den Füßen rasenden Schwarz-Weiß-Strukturen her.
- «rAndom International: Tower»: Das Londoner Studio rAndom International errichtet auf dem Gelände des Welterbes Zollverein einen monumentalen Wasserturm.
- «Nowhere and Everywhere»: Der US-Choreograph und Künstler William Forsythe lässt im Museum Folkwang von einem Gitter 400 Pendel herabhängen, die in Bewegung gesetzt werden. Der Besucher steht vor der Herausforderung, die Pendel zu durchwandern, ohne sie zu berühren.
THEATER
- «Situation Rooms»: In der Produktion der Performance-Gruppe «Rimini Protokoll» schlüpfen die Zuschauer in die Rolle der Protagonisten und wandern durch eine globalisierte Welt der Waffen, des Krieges und des Flüchtlingselends.
- «FC Bergman: 300 el x 50 el x 30 el»: Die Antwerpener Performance-Gruppe FC Bergman wurde mit diesem Stück über Nacht bekannt: Häusliche Szenen zwischen Komik und Gewalt zeigen eine Dorfgemeinschaft, gelähmt von der Gefahr einer angekündigten Katastrophe.
TANZ
- «Boris Charmatz: Levée des conflits»: Die Choreografie für 24 Tänzer des französischen Tanzkünstlers Boris Charmatz steigert sich aus einem Solo zu einer furiosen Komposition.
- «Partita 2»: Die Choreografen Anne Teresa De Keersmaeker und Boris Charmatz tanzen Johann Sebastians Bachs «Partita No. 2», die von der französischen Violinistin Amandine Beyer gespielt wird.
CINE-CONCERT:
- «Massive Attack V Adam Curtis»: Die britische Kultband spielt zu den scharfen Polit-Videos des britischen Dokumentarfilmers.
- «Metropolis: ACTUAL REMIX»: Das französische DJ- und Künstlerduo Xavier Garcia und Guy Villerd spielt einen neuen Soundtrack zu Fritz Langs Stummfilmklassiker.