Berlin - Es gibt kaum ein Musikfestival in Deutschland, das so viele Menschen kennen - und über das so wenige Menschen wirklich etwas wissen: Die Bayreuther Festspiele sind ebenso ein Phänomen wie Richard Wagner selbst und seine verzückten Anhänger.
All dem widmet sich der Regisseur Axel Brüggemann mit seinem Dokumentarfilm «Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt», der sich mit genau diesen drei Themen befasst: dem Komponisten, seinen glühenden Verehrern und den Zaungästen, die Jahr für Jahr einigermaßen staunend hinaufschauen auf den Grünen Hügel von Bayreuth. Brüggemann hat Festivalchefin Katharina Wagner und ihren Hund besucht, Wagnerianer begleitet und spricht ausführlich mit einem Bayreuther Metzger-Ehepaar, das viel erzählen kann über die seltsame Welt, in die die oberfränkische Stadt sich für einen Monat im Jahr verwandelt. Ein ungeheuer unterhaltsames Unterfangen - vor allem für diejenigen, die schon vor dem Film ein gewisses Interesse an der Thematik hatten.
(Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt, Deutschland 2021, 98 Min., FSK o.A., von Axel Brüggemann, mit Katharina Wagner, Christian Thielemann, Valery Gergiev, Plácido Domingo, Alex Ross, Piotr Beczala, Anja Harteros, Barrie Kosky, Catherine Foster, Kevin Maynor, Sheik Zaki Anwar Nusseibeh, Ronald Perlwitz, Jonathan Livny, Georg Rauch und Ulrike Rauch)
Kinostart 28. Oktober
[update mit Interview]
Regisseur Axel Brüggemann und die «Weltreligion Wagner»
Interview: Britta Schultejans, dpa
Gottgleiche Verehrung, verzückte Pilger, eine Welt für sich: Der Regisseur Axel Brüggemann bringt einen Dokumentarfilm über die Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele und das Phänomen Wagner ins Kino (Kinostart 28. Oktober). Im Interview der Deutschen Presse-Agentur erzählt er, warum.
Frage: Warum haben die Bayreuther Festspiele einen Dokumentarfilm verdient?
Antwort: Ich weiß gar nicht, ob die Bayreuther Festspiele die Doku verdient haben. Vielleicht eher die Wagner-Fans, die endlich hinter die Kulissen der Festspiele, in den Motorraum von Bayreuth blicken können. Sie können zum ersten Mal Christian Thielemann hautnah erleben oder Katharina Wagner beim Regieführen sehen. Seit einigen Jahren öffnen sich die Festspiele, versuchen, dem Anspruch von Richard Wagner gerecht zu werden: Oper für alle! Und das ist letztlich auch der Anspruch des Filmes: Ich möchte zeigen, dass die Bayreuther Festspiele auf der einen Seite «Höchst»-Kultur sind, auf der anderen Seite vollkommen bodenständig - dass Oper sowohl den Geist als auch das konkrete Leben der Menschen beeinflussen kann.
Frage: Wie haben Sie das Metzger-Ehepaar Rauch gefunden?
Antwort: Mein Vater hat öfter bei den Rauchs übernachtet und immer davon geschwärmt, dass sie das darstellen, was Bayreuth in Innersten ausmacht: das fränkische Herz. Anders als Salzburg, wo viele Menschen kommen, um gesehen zu werden, ist Bayreuth ein Festspielort, an dem es um die Sache geht - also um die Musik. Man macht hier keinen Firlefanz, sondern genießt die Fränkische Schweiz und die fränkische Seele - die Direktheit, für die die Rauchs stehen. Ich kannte noch Wolfgang Wagner, und irgendwie erinnert mich die Art, wie er das Festspielhaus geführt hat, an die Metzgerei Rauch: Ehrlich, leidenschaftlich und mit viel Bauch und noch mehr Herz.
Frage: Haben Sie das Phänomen Wagner verstanden?
Antwort: Was ich verstanden habe, ist, dass Wagner eine permanente Ambivalenz bedeutet: Warum verehren Faschisten, Kommunisten und Demokraten seine Musik? Warum Christen, Moslems und Juden? Ich glaube, dass Wagner in Wahrheit eine Ego-Religion geschaffen hat: Seine Haltung änderte sich stets mit seiner persönlichen Situation. War er pleite, wollte er das Geld abschaffen, unterstützte ihn Ludwig II., war er Monarchist. Später wehrte seine Familie sich nicht gegen die Annexion der Nazis, und heute ist Bayreuth Wohnzimmer der bundesrepublikanischen Demokratie, nicht zuletzt durch Angela Merkel. Bayreuth ist ein Spiegel der deutschen Seele geworden, eine Art Ersatz-Königshaus der Nation mit allen Schatten- und Lichtseiten. Hier wird die deutsche Seele jeden Sommer aufs Neue verhandelt.
Frage: Und dessen Jünger?
Antwort: Das war für mich die eigentliche Erkenntnis: Was verbindet einen der reichsten japanischen Super-Manager, der eine Wagner-Kinderoper auf die Beine stellt, mit einem schwarzen Bariton aus New Jersey, der den ersten «Ring» für People of Colour stemmt, mit einem muslimischen Scheich aus Abu Dhabi und einem jüdischen Flüchtlingssohn aus Tel Aviv? Sie alle sind leidenschaftliche Wagnerianer und haben ihren ganz individuellen Blick auf Wagners Werk. Was sie alle verbindet: Unendliche Leidenschaft, Empathie, Sehnsüchte. Der Film sollte einmal «Weltreligion Wagner» heißen - und ich persönlich finde, dass dieser Titel noch immer eine Berechtigung hat.
Frage: Wie war die Arbeit in Bayreuth für Sie?
Antwort: Es ist selten, dass Medien-Menschen sich so frei in Bayreuth bewegen dürfen wie wir. Mich persönlich begeistert in Bayreuth die vollkommene Immunität gegen jeden Dünkel. Hier arbeiten alle, die kommen, alle Künstlerinnen und Künstler, leidenschaftlich an der Musik, an der Oper, an der ewigen Neudeutung der immer gleichen Partituren von Richard Wagner. Sie verbringen die Sommerferien in einem Opernhaus, weil sie der Überzeugung sind, dass Kultur und Musik bereichernder sein kann als ein Sommerurlaub an der Amalfiküste. Die offenen Türen in Bayreuth haben uns gezeigt, wie ernsthaft und tiefgründig die Arbeit an Wagner jedes Jahr ist - und dass dieser von Wagner erschaffene Ort bis heute auch ein künstlerisches Mekka ist.
Frage: Immer wieder wird diskutiert, ob und wie die Bayreuther Festspiele zukunftssicherer und damit wohl auch jünger werden können. Wie sehen Sie die Chancen und was muss aus Ihrer Sicht noch passieren?
Antwort: Ich habe die letzten zehn Jahre der Bayreuther Festspiele sehr genau verfolgt, die Anstrengungen, Wagner zugänglich zu machen, durch Freiluft-Aufführungen auf dem Festplatz, durch Kino-Übertragungen, ein besonders Fernseh-Pausenprogramm oder durch die Kinderoper. Angebote, die früher undenkbar gewesen wären und heute sehr erfolgreich sind. Ich finde, dass besonders Katharina Wagner ein sehr gutes Händchen beweist, Oper ins Jetzt zu stellen. Schauen Sie allein den letzten Sommer an: Barrie Koskys umjubelte «Meistersinger», Tobias Kratzers nicht nur moderner, sondern auch erschütternder «Tannhäuser», das Debüt von Oksana Lyniv als erste dirigierende Frau bei den Festspielen - und perspektivisch ein «Parsifal» in Augumented Reality. Ich kenne keine anderen Festspiele, die so viele Akzente ins Heute setzen. Ich finde, da denkt ein Opernhaus sehr in die Zukunft, geht Risiko ein und versucht, eine alte Kultur im Jetzt zu verankern. Letztlich ist ja auch der Film «Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt» der Versuch, Wagner, seine Ambivalenz und seinen Reiz in unsere Zeit zu stellen - zum Schmunzeln, zum Beben, zum Hadern und, natürlich, auch zum Freuen.
ZUR PERSON: Der gebürtige Bremer Axel Brüggemann ist Journalist, Drehbuchautor und Regisseur. Er war Musikredakteur bei der «Welt am Sonntag» und Chefredakteur des Klassik-Magazins «Crescendo». Für den Bezahlsender Sky hat er das Format «Bayreuth - Die Show» entwickelt. Dafür wurde er mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet und für den Grimme Preis nominiert.