New York - Das digitale Dauerrauschen kann selbst rastlose New Yorker anstrengen. Bei Max Richters achtstündigem Konzert «Sleep» versuchen 150 Zuschauer, innerlich für eine Nacht abzuschalten. Selbst in den fluffigen Betten können sich einige nur schwer vom Leuchten der Displays lösen.
Allein und in Grüppchen haben sie sich mit ihren Tickets aufgereiht, zum Konzert des britischen Avantgarde-Komponisten Max Richter, aber irgendetwas ist an diesem Abend anders: Sie haben Pyjamas dabei und Schlafmasken, Ohrstöpsel und Zahnbürsten, gemütliche Socken, etwas zum Lesen. Richter hat zu seinem achtstündigen Schlafkonzert «Sleep» geladen, Spielzeit 22:30 Uhr bis 06:30 Uhr, keine Unterbrechung. Das Publikum soll durchatmen, abschalten, dem Kopf eine Pause gönnen. Ausgerechnet in New York, der Stadt, die angeblich niemals schläft. Kann das gut gehen?
Ein Drittel der Amerikaner schläft laut eigener Aussage zu wenig. In der Millionenstadt New York, wo ewig Getriebene über Gehwege hasten und sich Handys umklammernd über U-Bahnsteige schieben, kommt nur ein Drittel auf die empfohlenen acht Stunden Schlaf pro Nacht, fand das Siena College in einer Studie im März heraus. Mehr als 40 Prozent beginnen jeden Tag mit einem Kaffee und mehr als die Hälfte ist innerhalb der ersten Stunde nach dem Aufwachen online, ob mit E-Mails, Text-Nachrichten oder in sozialen Netzwerken.
Auch in den Spring Studios, die mit Bühne und 150 Einzelbetten zu einer Mischung aus Konzertstätte und Schlafsaal umgebaut wurden, heben sich bald die ersten Handys in die Höhe. Zwei Freundinnen tragen passende, gepunktete Schlafanzüge und posieren vor der Fensterfront, dahinter leuchten Manhattans Hochhäuser. «Ich habe eine Zeitschrift mitgebracht. Ich weiß gar nicht, warum», sagt eine der beiden. «Falls ich nicht schlafen kann.» An einer Bar gibt es Cocktails umsonst, man lernt sich kennen.
Das Gruppen-Schlummern mit Fremden wirkt viel zu aufregend, als dass man hier wegdösen könnte. Es sei wie eine «große Pyjama-Party», sagt einer, aber eben anders als zu Teenager-Zeiten. Ein Max Richter-Fan ist am Vorabend aus Kanada eingeflogen, am Tag nach der Show will er wieder abreisen. Wird er schlafen? Es ist die Gretchenfrage an diesem Abend, die «Million Dollar Question», wie jemand sagt.
Schlaf ist kostbar, in einer schlaflosen Stadt wie New York erst recht. Gestresste zahlen längst, um etwa im «Yelo Spa» in privaten Kabinen tagsüber ein «power nap» zu halten. Das «Power-Nickerchen» kostet dort einen Dollar pro Minute, bei «Nap York» können Kunden für etwa acht Dollar eine halbe Stunde in Ei-förmigen «sleep pods» schlummern. Schlaf ist ein Gut, für manche ein Luxus.
Einige Paare haben ihre Matratzen zu Doppelbetten kombiniert, als Max Richter sich an den Flügel setzt. Er lässt eine langsame Notenreihe die Klaviatur herunterwandern, bald legt sich ein Bass-Grundwummern aus den Lautsprechern darunter. Irgendwann senken sich die Handys, Köpfe sinken in Kissen. Richter erzeugt Geräusche aus anderen Welten. Es sind Ur-Töne, die den Körper durchdringen. Wer dazu einschläft, kann die Musik als Soundtrack der eigenen Träume erleben.
Als «Schlaflied für eine frenetische Welt und Manifest für ein langsameres Tempo unseres Daseins» hat Richter seine Arbeit bezeichnet. Ob das Publikum dabei einschläft oder wach bleibt, ist für ihn nebensächlich. Er will mit der Komposition einen «anderen Zustand» erreichen, sagt er der Deutschen Presse-Agentur. «Es ist eine Einladung, uns von unserem mit Daten übersättigten Universum zu trennen und den kreativen Raum dieser Musik-Performance zu nutzen, um uns wieder mit dem Rest unseres Leben zu verbinden.»
Gegen 1:30 Uhr morgens - das Konzert läuft seit drei Stunden - scheinen das die meisten Zuschauer verstanden zu haben. Sopranistin Grace Davidson sitzt auf der Bühne und ruft wie eine Stimme aus dem Jenseits in den Saal. Einige liegen mit Schlafmasken und Nackenkissen da, die Körper in Rücken-, Bauch- und Seitenlage, andere sind mit Straßenkleidung weggedöst wie manch einer abends vor dem Fernseher. Hier ein Raunzen, dort ein leises Schnarchen. Es hat etwas Friedliches, fremden Menschen beim Schlafen zuzusehen.
Einige können sich aber auch die Nacht hindurch nicht von ihren elektronischen Wegbegleitern trennen. Ein Mann filmt das Konzert im Liegen, ein anderer sitzt in der dritten Reihe über seinen Laptop gebeugt und scrollt durch Angebote eines Online-Reisebüros. Später klebt sein Daumen am Handy-Display. «Der Mensch benötigt acht Stunden, in denen er nicht irgendwelches Zeug kauft», wird Richter am nächsten Morgen dem Radiosender WNYC sagen.
Richter, der wie ein Vater über eine Schar schlafender Kinder wacht, steht am Pult und blättert durch seine 250 Seiten lange Partitur. Gespielte Seiten lässt er zu Boden segeln. Es ist 2:15 Uhr.
Als der Himmel sich von Schwarz zu Dunkelgrau aufhellt, sitzen Einzelne wie Erdmännchen in ihren Betten, einige Handys leuchten wie Baken im Meer. Eine Frau in der ersten Reihe sitzt kerzengerade da, auf der Straße kündigen vereinzelte Autos den Verkehr des Tages an. Die drei Geiger und zwei Cellisten tragen mit Richters Bässen ein dumpfes Surren in den Saal. Wie Tiefseetaucher sind sie zum Meeresboden hinab, haben mit ihrer Musik sanft den Grund angetippt und steigen nun in langen Zügen zur Wasseroberfläche auf. Es ist 5:30 Uhr, Samstag früh. New York erwacht. Eine Wasserflasche zischt, irgendwo im Saal klingelt ein Handy-Wecker.
Für Kalina Jonson, die aus Maine angereist ist, hatte die Nacht etwas Bereinigendes. Tief habe sie nicht geschlafen, aber darum ging es ihr bei der Musik auch gar nicht. «Sie hat mich mit einem Gefühl von Hoffnung und Mut und Schönheit in den Tag gehen lassen. Ich habe viel geweint», sagt sie. Richters Werk gebe Gelegenheit, sich auszuruhen und sich dadurch selbst zu helfen. «Es kann so anstrengend sein, ein Mensch zu sein. Und jeder braucht etwas Sanftmut.»
Ein Australier kam gerade einmal auf zwei Stunden Schlaf. «Ich hätte einfach Ohrstöpsel gebraucht.» Eine seiner Begleiterinnen sagt: «Einige sind für den Schlaf hergekommen, andere für den Lärm.»
Interview
Mit der Deutschen Presse-Agentur spricht er über Musik als sein Labor, die Fesseln des digitalen Alltags und Zuschauer, die bei seinem achtstündigen Schlafkonzert «Sleep» auch mal schnarchen.
Frage: Wie kamen Sie darauf, ein Schlafkonzert zu schreiben?
Antwort: Als ich die Musik 2014 schrieb, hielt ich es für unmöglich, sie live aufzuführen. Bei der Aufnahme haben wir herausgefunden, dass es zwar schwierig werden dürfte, aber möglich. Jedes Stück Musik ist eine Entdeckungsreise.
Frage: Wie spielt man ein achtstündiges Konzert von 22:30 Uhr bis 6:30 Uhr, teils mehrere Abende hintereinander?
Antwort: Es ist eine große Herausforderung, ich habe 250 Seiten Klaviernoten vor mir. Vermutlich ist es wie ein Marathon, man muss sehr fit sein. Ich stelle meine innere Uhr so um, dass es Morgen ist, wenn ich auf die Bühne gehe.
Frage: Die verlassen Sie dann acht Stunden lang auch kaum.
Antwort: Ich mache zwei oder drei kurze, zehnminütige Pausen. Man wird einfach steif oder sehr hungrig, rein körperliche Dinge. Die Streicher bekommen etwas mehr Auszeit, für sie ist es unglaublich anstrengend.
Frage: Was wollen Sie mit dieser Musik bewirken?
Antwort: Das Stück ist eine Einladung, eine Pause zu machen, uns von unserem mit Daten übersättigten Universum zu trennen und den kreativen Raum dieser Musik-Performance zu nutzen, um uns wieder mit dem Rest unseres Leben zu verbinden. Das Leben, das nicht am Bildschirm und in sozialen Medien und dem ganzen anderen Zeug stattfindet.
Frage: Kann Musik diese Aufgabe denn leisten?
Antwort: Ich denke, Kunst kann das. Ein Gemälde kann dich in einen anderen Zustand versetzen. «Sleep» ist so ein Projekt. Es ist auch ein Experiment, um zu sehen, wie Musik und Geist in diesem Konzept über Nacht zusammen existieren. Für mich ist es eine Art Labor.
Frage: Wollen Sie an Schlaflosigkeit leidende Menschen therapieren?
Antwort: Es ist keine Schlaftablette. Die Musik soll einen nicht zum Einschlafen bringen. Es ist ein Stück, das uns die Nacht über begleiten soll.
Frage: Warum können Menschen heute so schlecht abschalten?
Antwort: Wir durchleben eine sehr intensive Zeit, die von gewaltigen technologischen Veränderungen angetrieben wird. Das beherrschende Modell dreht sich um Produktion und Konsum, in wenigen Jahren sind sehr digitale Leben entstanden. Es ist eine herausfordernde Lage, die unsere Fähigkeit, uns auszuruhen, zersetzt hat. Ein Teil unseres Gehirns denkt immer: Was passiert auf Twitter oder Facebook? Sollte ich meine E-Mails noch einmal checken, bevor ich schlafen gehe?
Frage: Sind Sie frustriert, wenn jemand in Ihrem Schlafkonzert durchgehend Fotos macht oder am Handy oder Laptop hängt?
Antwort: Auf gewisse Weise ist das enttäuschend. Aber ein Teil von «Sleep» ist auch, den Auftritt selbst zu demokratisieren. Bei klassischer Musik sind wir ein sehr kodifiziertes und strenges Set an Gepflogenheiten gewohnt. Ich würde nicht vorschreiben, wie die Menschen das Konzert erleben.
Frage: Kommt es auch mal zu störenden Zwischenfällen?
Antwort: Die Menschen schnarchen, reden im Schlaf oder wandern umher, und das ist in Ordnung. Besorgniserregende Zwischenfälle gab es bisher nicht.
Frage: Wie privat ist Schlaf, wie sehr verbindet er?
Antwort: Die Performance weckt eine Art Gemeinschaftsgefühl. Schlaf ist normalerweise sehr privat und intim, (das Konzert) ist ein sehr grundsätzlicher Akt des Vertrauens. Man hat das Gefühl, gemeinsam auf eine Reise zu gehen, das ist im Saal auf sehr eindrucksvolle Weise zu spüren. Wir sind sozusagen gemeinsam durch die Nacht gereist.
ZUR PERSON: Der im niedersächsischen Hameln geborene Max Richter zog mit seinen Eltern als kleiner Junge nach Großbritannien. Er hörte viel klassische Musik, neben Kompositionen von Philip Glass aber auch die Beatles, Pink Floyd und The Clash. Die Band Kraftwerk inspirierte ihn, seine eigenen Instrumente zu bauen. Er veröffentlichte rund 40 Soundtracks, darunter für die Filme «Waltz With Bashir», «Die Fremde», «Lore» sowie für Volker Schlöndorffs Roman-Verfilmung «Rückkehr nach Montauk». Zu seinen bekanntesten Alben zählen neben «Sleep» die Vivaldi-Neuauflage «The Four Seasons - Recomposed» und «The Blue Notebooks».