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Mecklenburgs Musikerbe schlummert in Archiven

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Schwerin/Ludwigslust - Tosender Applaus erfüllt die Ludwigsluster Stadtkirche. Der international gefragte Bariton Nikolay Borchev singt unter Baugerüsten - die Kirche wird gerade restauriert - selten Gehörtes: Musik von Johann Wilhelm Hertel (1727-1789) und Adolph Carl Kuntzen (1720-1781), zum Teil erstmals seit 200 Jahren wieder aufgeführt. Beide wirkten als Hofkomponisten in Schwerin und Ludwigslust für die musikbeflissenen mecklenburgischen Herzöge.

 
 
 
Der 34-jährige Borchev verfügt über reiche Erfahrungen mit alter Musik, immer wieder arbeitet er mit Spitzenensembles wie dem Freiburger Barockorchester und der Akademie für Alte Musik Berlin. Doch Hertel und Kuntzen sind für ihn Neuland, bekennt er. Borchev hatte noch nie von den beiden gehört, ehe er sich für zwei Konzerte der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern in diesem Sommer in Ludwigslust intensiv mit ihnen beschäftigte.
 
«Das war für mich sehr spannend, denn ich hatte ja - anders als bei den meisten anderen Werken - keine Vorbilder oder Aufnahmen», erzählt Borchev. Er habe sich also ganz unbeeinflusst, nur anhand der Partitur vorbereiten können. «Das gibt einem natürlich eine große Freiheit.» Die Hertel-Arie habe ihn sängerisch an Händel erinnert. Ganz ungewöhnlich sei die Arie von Kuntzen - sie besteht aus sechs ganz unabhängigen kleinen Arien.
 
Die Vielzahl der kleineren und größeren Fürstenhöfe des 17. und 18. Jahrhunderts hatte eine blühende Kulturlandschaft hervorgebracht, von der Deutschland noch heute profitiert. Orchester wie die Sächsische Staatskapelle Dresden oder auch die Mecklenburgische Staatskapelle Schwerin wurden von Herrschern für die höfische Unterhaltung gegründet. Das Orchester in Mecklenburg gehörte seinerzeit zu den besten in Europa.
 
Der Geiger Stefan Fischer steht im schmalen Arbeitszimmer seines Einfamilienhäuschens in Schwerin. In Wandregalen stapeln sich bis zur Dachschräge Notenkopien. «Das ist die größte Sammlung von Werken der Schweriner und Ludwigsluster Hofkomponisten außerhalb der Landesbibliothek», sagt er. In dem geschätzt zwei mal zwei Meter kleinen Zimmerchen sucht und findet Fischer passende Musik der Hofkomponisten, wann immer sich eine der seltenen Aufführungsmöglichkeiten bietet.
 
Im Hauptberuf ist Fischer Mitglied der Mecklenburgischen Staatskapelle Schwerin. Er findet es bedauerlich, dass «sein» Orchester so selten die Komponisten der Ludwigsluster Klassik - diese Bezeichnung hat sich für die mecklenburgischen Hofkomponisten des 18. Jahrhunderts eingebürgert - aufführt. «Das ist unser Musikerbe», sagt er. Findet Fischer genügend Geldgeber, dann kommen für einen Auftritt gleichgesinnte Musiker zum Mecklenburgischen Barockorchester «Herzogliche Hofkapelle» zusammen. Sie spielen auf historischen oder originalgetreu nachgebauten Instrumenten.
 
Die finanziell potenten Festspiele engagierten in diesem Sommer neben der Hofkapelle den Bariton Nikolay Borchev, den Trompeter Gabor Boldoczki und den NDR Chor für ihr «Fest für die Ludwigsluster Klassik». Die zugkräftigen Solisten-Namen lockten einige hundert Zuhörer in die Residenzstadt. Neben Händel, Bach und Telemann bekamen sie auch Musik der mecklenburgischen Hofkomponisten Hertel, Westenholtz und Kuntzen «serviert», was für einige Aha-Effekte bei den Zuhörern sorgte.
 
Iris Leithold
 
 
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