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Berlin wird mit Musicals überflutet. Ein Großteil der Inszenierungen floppt, der Misserfolg steht auf der Tagesordnung. UdK-Professoren äußern sich zu dieser Berlin-typischen Problematik.
Berlin (ddp-bln). Das Disney-Musical "Der König der Löwen" schreibt seit Dezember 2001 nach seinem Broadway-Höhenflug auch in Hamburg Erfolgsgeschichte. Nach dem Triumph des deutschsprachigen Musicals "Elisabeth" ist der Stage Holding des Niederländers Joop van den Ende damit ein neuer Coup gelungen. Für November 2002 hat das Unternehmen gemeinsam mit seinem Konkurrenten Stella Entertainment den Start des in New York und London gefeierten Musicals "Mamma Mia!" angekündigt. Das Premierentheater Operettenhaus auf der Hamburger Reeperbahn erlebt dann seine Feuertaufe als Haus für beide erfolgreiche Musical-Unternehmen: Ab Juli betreiben Stella und Stage Holding es als Partner.In Berlin hat die Stella AG vor einigen Tagen für Sommer/Herbst einen Tausch im eigenen Theater am Potsdamer Platz angekündigt. Nach drei Jahren soll Disney\'s "Der Glöckner von Notre Dame" die Bühne für das neu produzierte Musical "Saturday Night Fever" mit den Discohits der Bee Gees räumen. Gesenkt hat sich der Vorhang bereits für die erste Stella-Eigenproduktion "Emil und Detektive". Er hebt sich wieder ab 25. März in Hamburg. In Berlin kann, wer mag, in die Wiederaufnahme von "Falco meets Amadeus" in das vor der Privatisierung stehende Theater des Westens (TdW) gehen.
Die Musiktheaterstadt Berlin war in den 20er Jahren berühmt für intelligentes Entertainment vor allem von jüdischen Komponisten und Autoren. Nach dem Krieg schrieben Geschichte unter anderem "My Fair Lady" im TdW 1961, die deutsche Erstaufführung von "La Cage Aux Folles" 1985 am gleichen Haus und die grandiose "Linie 1"-Produktion am Grips-Theater ein Jahr später. Heute sind es neben Stella eher kleine Häuser wie die Neuköllner Oper, die erfolgreich Musicals auf den Spielplan nehmen.
Kommerzielle Produktionen wie "Marlene" und "Shakespeare & Rock\'n\' Roll" von Friedrich Kurz, die Schweizer Inszenierung "Space Dreams" und der "Herr der Ringe" in der Regie von Bernd Stromberger floppten hingegen in den letzten Jahren gewaltig. Noch frisch ist die Erinnerung an den jüngsten Reinfall mit Weills "Venus" kurz vor Weihnachten. "Zu einer erfolgreichen Szene gehören auch Flops", sagt der Ko-Intendant der Neuköllner Oper, Peter Lund. "Dass in Berlin nahezu alles den Bach runtergeht, liegt in erster Linie an den schlechten Produktionen."
Rüdiger Bering, Dozent an der Universität der Künste, die seit 1990 Musical-Darsteller ausbildet, teilt diese Ansicht: "Ich habe fassungslos in der \'Venus\'-Aufführung gesessen. Die Figuren liefen wie Karikaturen herum. Keine Figur und keine Situation wurden ernst genommen. Dieser Misserfolg ist sehr ärgerlich für das Genre Musical, denn Kurt Weill gehört nach Berlin." Bering und Lund sehen dennoch ein gestiegenes Interesse des Publikums am Musical: "Das zeigen die Großproduktionen, auch in Berlin ist der \'Glöckner\' erfolgreich", sagt Bering. "Das Publikum ist da. Es rennt aber nicht mehr in jede Produktion, wenn nur Musical draufsteht. Gerade die Berliner sind sehr kritisch."
Auch die Großen der Branche, Stella und Stage Holding, müssen umdenken, sind sich Bering und Lund einig: "Selbst in den USA und in Großbritannien, den klassischen Musical-Märkten, schwächeln die großen Stücke. Es ist Zeit für die deutschsprachigen Produktionen", sagt Lund. Bering nennt die Schwierigkeiten: "Es gibt zu wenig intelligente Leute, die sich für das Genre interessieren und ein Musical schreiben können. Das erfordert Intelligenz, Humor, Handwerk und Können. Und ein deutschsprachiges Musical braucht für eine Erstaufführung ein kleineres Haus mit 300 bis 400 Plätzen. Dort hätte man die Chance, auch etwas zu entwickeln. Das fehlt in Berlin."
Eine Tendenz hin zu kürzeren Laufzeiten der Produktionen, wechselnden Stücken und deutschsprachigen Musicals sieht auch der künstlerische Direktor der Stella AG, Michael Pinkerton: "Wir müssen künftig Geschichten über die deutsche Kultur mit deutschsprachigen Darstellern erzählen. Das Musical ist in Deutschland eine neue Kunstform, die sich in den letzten zehn Jahren gut entwickelt hat. Doch es mangelt an deutschen Komponisten und Autoren", bestätigt auch er.
Für Stella sei Berlin aber ein gutes Pflaster und der Standort am Potsdamer Platz, der "neuen Mitte" der Stadt, ideal. Die Konkurrenz durch die Stage Holding sieht Pinkerton gelassen: "Berlin verträgt mehrere Musicaltheater." Beide Unternehmen bemühen sich sowohl um das TdW als auch um das Schillertheater. Im Metropol-Theater, seit vergangenem Jahr im Besitz der Stage Holding, soll sich zur Spielzeit 2003/2004 der Vorhang heben, auch für eigene Produktionen. Qualität wird über Erfolg oder Flop entscheiden - da sind sich Lund, Bering und Pinkerton einig.
Andrea Marczinski