Bonn - Vom Nischenthema bis zum Megaereignis: Musikfreunde lieben Festivals. Sie sollten jedoch nicht den von der öffentlichen Hand geförderten Kulturbetrieb ersetzen, warnt der Deutsche Musikrat. Die Zahl der Musikfestivals und Musikfestspiele in Deutschland ist auf mehr als 500 angestiegen. Das sind nach Angaben des Deutschen Musikinformationszentrums (MIZ) in Bonn fast viermal so viele wie noch vor 20 Jahren.
Bonn - Es gibt Menschen, die reisen seit neun Jahren im Sommer nach Osnabrück, um landestypische Musik aus Syrien, dem Iran oder Aserbaidschan zu erleben. Auch in diesem Jahr wird das wieder der Fall sein, wenn das Morgenland-Festival vom 19. bis 30. September über die Bühne geht. «In diesem Jahr gibt es uns zum zehnten Mal», sagt Michael Dreyer, Initiator und künstlerischer Leiter der Veranstaltung, die die Musikkultur des Vorderen Orients abzubilden versucht. Dreyer und sein Festival belegen sicher eine Nische im deutschen Festivalgeschehen, das in diesem Jahr mehr als 500 Veranstaltungen umfasst, Klassik, Neue Musik, Rock, Pop und Jazz.
«Festivals sind ein wichtiger Bestandteil unserer kulturellen Vielfalt», sagt der Generalsekretär des Deutschen Musikrates, Prof. Christian Höppner. Er warnt aber die Politiker, den normalen öffentlich finanzierten Kulturbetrieb zugunsten dieser Veranstaltungen zu vernachlässigen.
«Es ist die kompakte Präsentation von Kunstereignissen oder kulturellen Ereignissen, sei es Kino oder auch Musik, die den besonderen Reiz eines Festivals ausmacht», sagt der neue Intendant des Schleswig-Holstein Musikfestivals, Christian Kuhnt. Das 1986 vom Pianisten Justus Frantz gegründete Festival ist ein Dino unter den jährlichen Veranstaltungen. Das mit «Mozart in Scheunen» überschriebene Konzept werde auch heute noch oft nachgeahmt. Daher sei nach neuen Ansätzen gesucht worden, um Hemmschwellen gegenüber klassischer Musik abzubauen und Menschen zu guter Musik zu verführen.
Schwerpunkt der Festwochen im Norden bis Ende August ist der Komponist Felix Mendelssohn. Zudem können sich Besucher mit einer Solistin auseinandersetzen, der argentinischen Cellistin Sol Gabetta, die 17 Konzerte spielt. Bei einem Budget von neun Millionen Euro liegt die Eigenfinanzierungsquote bei Kuhnts Festival bei 95 Prozent. Das wird aus Sponsorenerlösen, Spenden und Eintrittskarten erzielt. Nur ein kleiner Teil kommt von der öffentlichen Hand.
Kuhnt glaubt auch nicht, dass unter Festivals wirkliche Konkurrenz herrscht. «Es gibt ein vielfältiges Angebot», sagt er. «Ich habe noch nicht erlebt, dass es zu viel Kultur und in dem Fall auch eine Verdrängung gibt.» Die Festivals sollten sich vielmehr um ein eigenes Profil bemühen.
Dagegen glaubt Höppner schon, dass der Konkurrenzdruck wächst. So seien 2012 etwa die Salzburger Festspiele auf eine Woche verlängert und anschließend sei ein Besucherrekord vermeldet worden. Allerdings sei die Auslastung der Veranstaltungen von 95 auf 90 Prozent zurückgegangen. «Das sind so Beispiele, wo es wirklich schwierig wird, und wo sich die Janusköpfigkeit des Konkurrenzdrucks zeigt.»
Nike Wagner, neue Intendantin des Bonner Beethovenfestes (6. September bis 3. Oktober), beklagt viel Gleichförmigkeit in der Festivallandschaft. Festivals kooperierten gern, was sie wegen der allgemeinen Sparzwänge ohnehin tun müssten. Druck entstehe, wo privatwirtschaftlich finanziert werden müsse. «Von dort kommen Forderungen nach «Big Names», auch der Orchester, deren Tournee-Programm man dann akzeptieren muss.» In Gegenreaktion dazu wüchsen aber auch Spezial- und Exzentrik-Festivals, mit Nischenprogrammen oder sperriger Moderne.
So findet auch das Morgenland in Osnabrück Gehör. «Es gibt kein anderes Festival, das versucht, von traditioneller Musik bis hin zu Undergroundbands aus Teheran diese Region musikalisch darzustellen», sagt Dreyer, der für das Festival zwischen 400 000 und 500 000 Euro aufbringen muss. Dabei befinde er sich immer auf der Gratwanderung zur Politik, wenn es etwa darum gehe, einen Schwerpunkt über uigurische Musik zu machen.
Beim jüngsten Besuch der Uiguren habe deren Konzert 700 Besucher angezogen. So sei es auch bei den übrigen Konzerten. «Das sind alles Superstars in ihrer Heimat», sagt Dreyer. Die Festivalbesucher hätten die Erfahrung gemacht, dass es sich zu kommen lohne, auch wenn die Namen hier kaum einer kenne. Die ausländischen Gäste stehen auch gemeinsam mit europäischen Musikern auf der Bühne, etwa der NDR Big Band, dem Münchener Rundfunkorchester, der Capella de la Torre oder dem Pianisten Florian Weber. «Über die Jahre hat sich das zu einem Musiklabor entwickelt.»
Günter Wächter
In Deutschland laden über 500 Festivals zum Musikgenuss
Die Zahl der Musikfestivals und Musikfestspiele in Deutschland ist auf mehr als 500 angestiegen. Das sind nach Angaben des Deutschen Musikinformationszentrums (MIZ) in Bonn fast viermal so viele wie noch vor 20 Jahren. Dabei wird so gut wie jede Musikrichtung berücksichtigt, egal ob Klassik, Moderne, Jazz oder Rock und Pop. Damit die Musikinteressierten den Überblick über die einzelnen Veranstaltungen behalten, stellt das MIZ auf Basis seiner Datenbanken im Internet einen Festivalführer zur Verfügung, der alle wichtigen Informationen zu den einzelnen Veranstaltungen enthält.
Eine verbindliche Definition der Begriffe Festspiel und Festival gibt es nicht. Der Festspielspezialist Prof. Franz Willnauer erklärt die Begriffe so: «Festspiele haben sich zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert aus höfischen Festen und historisierenden Jubiläumsfeiern (Händel 1785, Mozart 1856) entwickelt und wurden von der gleichzeitig entstehenden bürgerlichen Gesellschaft als Instrumente der Emanzipation genutzt. Zu einem bestimmenden Faktor unseres Musiklebens sind Festspiele als Veranstaltungstypus erst nach dem Zweiten Weltkrieg geworden.
Mit dem Eindringen und immer stärkeren Vordringen des neuen Typus Festival wurde zugleich die Entwicklung von einer traditionell als kulturelle Höchstleistung verstandenen Kunstform zu einer vom Perfektionsideal unserer Industriegesellschaft bestimmten Organisationsform vollzogen. Festivals sind damit auch Ausdruck des jeweiligen Zeitgeistes: Ihr Event-Charakter, ihre Vermarktungsstrategien «sensationeller» Künstler oder Kunstleistungen, nicht zuletzt ihr medialer Stellenwert machen sie zur Kunstbetriebsform der Zukunft. Festivals waren eine «Erfindung» des 20. Jahrhunderts und sind ein kultureller Gebrauchsartikel des 21. Jahrhunderts.»