In loser Folge schreiben hier Autorinnen und Autoren über Neue Musik. Sie kommen aus Kunst, Kultur, Politik oder Wirtschaft. nmz und Gesellschaft für Neue Musik bieten damit unterschiedliche Perspektiven auf das aktuelle Musikschaffen von Persönlichkeiten, die nicht aus der Szene der Neuen Musik kommen, ihr aber auf die ein oder andere Weise nahestehen.
Der Musiktheoretiker Heinz-Klaus Metzger berichtete gerne von den großen Schwierigkeiten, seinen Zimmergenossen bei Krankenhausaufenthalten plausibel zu machen, mit was er sich beschäftigte. Sprach er davon, sich beruflich mit moderner, zeitgenössischer Musik zu befassen, dann vermuteten seine Gesprächspartner zunächst, dass es sich um Pop- oder Unterhaltungsmusik handeln müsse. Weitere Präzisierungsversuche schufen aber auch nicht unbedingt Klarheit: Nein, er beschäftige sich nicht nur mit klassischer, sondern auch mit romantischer und eben neuer Musik. Metzgers Résumé: Die meisten Menschen wüssten gar nicht, dass heute noch komponiert werde.
Pop-Sozialisation
Wenn ich mich im Kreis meiner Autorenkollegen so umsehe, dann ergibt sich kein anderes Bild: Die zeitgenössische Musik, mit der allenfalls Umgang gepflegt wird, ist gleichbedeutend mit Popmusik, die musikalische Sozialisation fast aller eine mit Pop. Die wenigen Ausnahmen von Schreibenden, die sich mit neuer Musik befassen oder gar produktiv mit ihr arbeiten – ich denke beispielsweise an Karin Spielhofer, Christian Steinbacher, Mathias Traxler oder Elisabeth Wandeler-Deck – bestätigen diese Regel. Das heißt aber auch, dass es unter Literaten meist gar kein Bewusstsein für die Charakteristika und medialen Eigengesetzlichkeiten von Musik gibt, zeichnet sich der Popdiskurs doch gerade dadurch aus, dass in ihm von allem möglichem die Rede ist – von sozialen Hintergründen, sexuellen Orientierungen, Gesten, Dresscodes und Cover Art, bloß nicht von Musik. Vielleicht ist er deshalb auch anschlussfähiger an Literatur. Die Tatsache, dass meist erst „Projekte“ initiiert werden müssen, um Komponisten und Schriftsteller zusammen- zubringen, bestätigt die Diagnose einer gegenseitigen Nicht-Wahrnehmung. Denn auch bei der Mehrheit der Komponisten ist nicht unbedingt ein überbordendes Interesse an zeitgenössischer Sprachkunst feststellbar. Zu den Ausnahmen, die auf dieser Seite die Regel bestätigen, rechnen Christoph Herndler, Harald Muenz, Annette Schmucki und Martin Schüttler. Viel eher und lieber verschanzt man sich aber hinter Bildungsgut von Hölderlin bis Bachmann, sichert sich damit gleichsam ab in seinem eigenen Tun und bedient die Restbestände des Bildungsbürgertums in den Konzertsälen und Feuilletons. So kann das natürlich nichts werden.
Ich habe es nie verstanden, wenn Kunstschaffende aus welcher Sparte auch immer sich nicht in erster Linie für die Arbeit ihrer Zeitgenossen interessiert haben. Denn was liegt letztlich näher? Mein eigener Weg in die Musik – zunächst natürlich auch nur eine kontingente Tatsache – war, musizierend und rezipierend, einer in die sogenannte klassische Musik als Bildungskanon. Irgendwann in meiner Gymnasialzeit hatte ich mich – als Schallplattensammler, Konzertbesucher, aber auch als Leser von Partituren – bis zum Wozzeck hochgearbeitet und war beeindruckt, wie ausgeklügeltste Konstruktion in Ausdruck umschlagen kann. Dass ich damals den Wunsch hatte, selbst Komponist zu werden, ohne freilich über ungelenke Versuche wirklich hinaus zu kommen, darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben. Jahre später reiste ich zu allen erreichbaren Aufführungen des Prometeo von Luigi Nono und würde auch sagen, dass mir die Begegnung mit der Musik Morton Feldmans neue Dimensionen des Erlebens musikalisch gestalteter Zeit beschert hat. Dass mich die durch den Raum wabernden Klangflächen Nonos im Verein mit dem bildungshubernden, aus Lesefrüchten zusammengestoppelten „Libretto“ Cacciaris heute nicht mehr gefangen nehmen, steht freilich auf einem anderen Blatt. Ich glaube jedenfalls nicht, dass zeitgenössischer Musik durch die Strapazierung von Pathosgesten Aktualität oder gar Relevanz zuwachsen kann. Inzwischen ist die wie auch immer lückenhafte, manchmal auch durch Zufälle und Hinweise aus dem Freundeskreis gesteuerte Wahrnehmung gegenwärtigen Komponierens für mich – als Radiohörer, Konzert- und Festivalbesucher – selbstverständlich und sehr oft auch wesentlich ertragreicher als die Beschäftigung mit aktueller Literatur. An der Neuen Musik und ihrem Metier weiß ich zu schätzen, dass hier nicht nur – anders als in der Literatur, wo noch immer Formen aus dem 19. Jahrhundert wie der Roman dominant sind – selbstverständlich von einem „modernen“ Reflexionsniveau ausgegangen wird. Ich finde auch die weit verbreitete Fähigkeit und Bereitschaft, sich handfest über die Gemachtheit von Kompositionen zu verständigen, hilfreich, die ich bei den Literaten vermisse, die meist nur mit Ideologemen und „Inhalten“ um sich werfen.
Ein neidischer Blick
Als ich 2007 gemeinsam mit Lisa Spalt daran ging, eine Literaturzeitschrift ins Leben zu rufen, nannten wir die Idiome im Untertitel „Hefte für Neue Prosa“. Dass hier ein wenig die Neue Musik (mit großem n) mitklingt, war natürlich beabsichtigt und einem neidischen Blick auf den Musikbetrieb geschuldet, wo dem zeitgenössischen Komponieren als ernsthafter Kunstanstrengung immer noch einige Reservate und Sendeplätze zugestanden werden. Um sich den Unterschied zum Literaturbetrieb zu vergegenwärtigen, stelle man sich nur mal vor, die Konzerttermine in Donaueschingen oder die einschlägigen Sendeplätze im öffentlich-rechtlichen Rundfunk müsste sich die komponierte zeitgenössische Musik mit Songwritern, DJs, ja sogar mit Pseudo-Volksmusik à la »Musikantenstadl« teilen. Im Literaturbetrieb geht es tatsächlich so zu. Kriminalliteratur und gehobene Unterhaltungsware in Romanform sind mittlerweile so dominant, dass sie Feuilletonleser für die Gegenwartsliteratur schlechthin halten und die Auseinandersetzung mit Sprachkunst außerhalb von Fachkreisen kaum noch stattfindet. Kulturpolitiker und Journalisten bilden sich wahrscheinlich ein, die zeitgenössische Literatur in ihrer ganzen Breite wahrzunehmen, wenn sie neben Krimis und Romanen von der Short-list ab und an auch einen Gedichtband von Durs Grünbein zur Hand nehmen; den hat natürlich auch Wolfgang Rihm längst vertont. Ich bin deshalb versucht, allen, die sich für die Sache der neuen Musik engagieren, zuzurufen: Haltet euch fern von allzuviel gutgemeintem Crossover-Quatsch und modischen Kuratoren-Konzepten! Am Ende werdet ihr das Nachsehen haben und selbst aus den Programmen gekegelt!
Hausgemachte Probleme
Heinz-Klaus Metzger war davon überzeugt, dass der zeitgenössischen Musik schon allein deshalb noch immer subversive Sprengkraft zu eigen sei, weil sie im Gegensatz zur aus allen Lautsprechern dröhnenden kulturindustriellen Ware atonal sei. So gesehen wäre noch das müdeste, akademische Streichquartett fast so etwas wie ein Partisanenakt gegen die globale Herrschaft des Musikbusiness, das pars pro toto für unsere verheerende Wirtschaftsordnung stünde. Es leuchtet ein, dass Komponisten es sich nicht so einfach machen sollten. Und gerade in den jüngeren Komponistengenerationen, unter den Töchtern und Söhnen der 68er, ist die Skepsis gegen eine neue Musik, „die sich zwar als streng revolutionär definiert, die sich aufgrund ihrer Glaubensgrundsätze und der Gegebenheiten des Betriebes aber darauf beschränken muss, ihre Revolutionäre bei den Sängerknaben zu rekrutieren, um ihre Schlachten in der Kapuzinergruft zu schlagen“ (Volkmar Klien), mittlerweile so groß, dass ich darauf verzichten kann, die Argumente hier detailierter darzustellen.
Dazu kommen hausgemachte Probleme wie die überproportionale Abhängigkeit von den Geldern der Siemens Musikstiftung. Auch die Aufregung, welche die Debatte um Programmatiken der „Diesseitigkeit“ (Martin Schüttler) jüngst in Fachzeitschriften ausgelöst hat, illustriert nur, wie groß der Nachholbedarf in der Neuen Musik ist, wenn es darum geht, Anschluss an aktuelle ästhetische Diskussionen etwa in der Kunsttheorie zu finden.
Und nein, aus den Literaturdebatten ist für diesen Zusammenhang natürlich auch nichts zu lernen. Wer sich, sagen wir: ein Wochenende in Witten antut, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er auf den etablierten Festivals – nicht nur, aber doch sehr oft – mit einer akademischen neuen Musik konfrontiert wird, die auf einem nicht unbeträchtlichen handwerklichen Niveau leerläuft. Sich an der Selbstgenügsamkeit und dem kaum noch durch irgendetwas gedeckten Avantgarde-Dünkel zu stoßen, sollte aber auch nicht dazu verleiten, das Kind mit dem Bade auszuschütten und das gering zu schätzen, was sich in den Neue-Musik-Reservaten teilweise an kritischem und Qualitätsbewusstsein erhalten hat. Mit dem Diskurstheoretiker Jürgen Link muss vor falschen, vorschnellen Alternativen gewarnt werden: WNLIA – weder noch, lieber irgendwie anders!
Florian Neuner wurde 1972 in Wels/Oberösterreich geboren; lebt nach Studien in Salzburg, Wien und Frankfurt am Main seit 1995 in Berlin und arbeitet dort heute als Schriftsteller und Journalist (u.a. Deutschlandradio, junge Welt). Er war von 2003 bis 2006 Mitherausgeber der Literaturzeitschrift „perspektive“ und ist Mitglied der Künstlervereinigung MAERZ, Linz, und der Grazer Autorenversammlung (GAV). Zusammen mit Lisa Spalt gründete er 2007 IDIOME, die „Hefte für Neue Prosa“, die er heute gemeinsam mit Ralph Klever herausgibt.