Er komponierte rund 80 Ragtimes, prägte damit den jungen Jazz und inspirierte Strawinsky und Debussy. Scott Joplin (1867 – 1917) hat der Kneipenmusik aus dem Mittleren Westen eine bleibende ästhetische Form gegeben. Mit seinem „Maple Leaf Rag“ von 1899 begann eine globale Erfolgsgeschichte.
Scott Joplin war noch keine 30, als er vom Tingeln genug hatte. Jahrelang hatte er in all den Saloons, Bars und kleinen Theatern gespielt, er kannte gefühlt jedes Kneipenklavier zwischen Texas, Louisiana, Illinois und New York. Nun war es Zeit, sesshaft zu werden. Der richtige Ort dafür schien ihm Sedalia zu sein, dort hatte er schon einmal für einige Zeit gelebt. Die Kleinstadt in Missouri war eine Entertainment-Oase mit immerhin etwa 35 Saloons, verkehrsgünstig gelegen an der Bahnlinie zwischen Kansas City und St. Louis. Dort in Sedalia würde er Musiker finden, um eine Konzertband oder ein Gesangsquartett zusammenzustellen, dort gäbe es auch Gelegenheiten, um wieder einmal Kornett, Violine oder Gitarre zu spielen. Er konnte auch unterrichten oder selbst noch studieren, denn Sedalia hatte ein College für Afroamerikaner, finanziert von den Methodisten.
In Sedalia wurde außerdem – wie überall im Mittleren Westen – mit Begeisterung Ragtime gespielt. Die Konkurrenz allerdings war nicht so stark wie etwa in St. Louis, wo die Ragtime-Matadore Tom Turpin und Louis Chauvin regierten. In den schwarzen Bars von Sedalia konnte auch ein Scott Joplin zum Klavierhelden aufsteigen. Joplin wurde der Star im örtlichen Maple Leaf Club, man nannte ihn nur noch den Entertainer. „Maple Leaf Rag“ und „The Entertainer“ – so lauten auch die Titel seiner berühmtesten Klavierstücke.
Märsche, Walzer, Cakewalks
Scott Joplins Talent zum Klavier-Improvisator mag nicht das größte gewesen sein, dafür hatte er gelernt, wie eine regelrechte Komposition auszusehen hat. Er war elf Jahre alt gewesen, als der deutschstämmige Musiker Julius Weiss auf den begabten kleinen Klavierspieler aufmerksam wurde und ihn kostenlos zu unterrichten begann. Joplins Eltern waren musikalisch, sie spielten Fiddle und Banjo und sangen in der Tradition der Schwarzen. Weiss aber weckte bei dem Jungen das Interesse an der europäischen Klassik.
Irgendwann fing Joplin an, kleine Klavierstücke für die Bars und Cafés zu schreiben, in denen er auftrat: Märsche, Walzer, Cakewalks, Slow Drags. Er schrieb auch Songs für Minstrel-Shows und Vokalgruppen. Sein Publikum in Sedalia jedoch wollte vor allem eines hören: Ragtime. 1897 waren erstmals Notendrucke von Ragtime-Stücken erschienen. Zwei Jahre schrieb auch Scott Joplin in Sedalia seine ersten Ragtimes aus, darunter den „Maple Leaf Rag“, und brachte sie zu einem Musikverleger vor Ort. Der war erst skeptisch, der „Maple Leaf Rag“ schien ihm für Laien zu schwer und damit als Notendruck wenig erfolgversprechend zu sein. Doch Joplin hatte einen kleinen schwarzen Jungen von der Straße mitgebracht, der zum Klaviervortrag einen wilden, begeisterten Tanz aufführte – gab es ein besseres Argument?
Der „Maple Leaf Rag“ steht für die Erfolgsgeschichte von Scott Joplin und des Ragtime überhaupt. Zunächst verkauften sich die Noten in der Tat schleppend, es waren 400 Druckex-emplare im ersten Jahr, für den Komponisten blieben vom Verkauf insgesamt 4 Dollar übrig. Doch unter den zahlreichen Ragtime-Pianisten entlang des Missouri River machte das Stück schnell die Runde – diese interessante Komposition musste jeder im Programm haben. Der Name Scott Jop-lin wurde bei den Insidern Kult, und die allgemeine Ragtime-Begeisterung des Publikums wuchs noch immer an. Selbst in New York wurde „Ragtime“ damals zum Modewort.
Metropole St. Louis
Ein Jahr nach Erscheinen des „Maple Leaf Rag“ zog Joplins Verleger in die Ragtime-Metropole St. Louis – und Scott Joplin folgte ihm, wurde ein Teil der dortigen Szene und komponierte Rag um Rag: „The Easy Winners“, „Elite Syncopations“, „The Ragtime Dance“, „The Entertainer“, „The Cascades“, „Gladiolus Rag“ ... St. Louis war damals die drittgrößte Stadt der USA und wurde kurze Zeit später (1904) sogar kurzzeitig der Mittelpunkt der Welt. Die Weltausstellung mit 20 Millionen Besuchern, die Olympischen Spiele, auch der Parteikonvent der Demokraten, alles fand in diesem einen Jahr 1904 in St. Louis statt. Musik erklang damals an jeder Ecke, der Ragtime eroberte von St. Louis aus den Globus. Und an der Spitze dieses Eroberungszugs stand Scott Joplins „Maple Leaf Rag“. Von dem Stück wurden nicht mehr 400 Drucke im Jahr verkauft, sondern nun 60.000. Bis 1909 summierte sich das zu einer halben Million. Scott Joplin war der „King of Ragtime“.
Scott Joplins Klavierstücke prägen bis heute unser Bild von dieser Musik. Wie auch immer die virtuosen Improvisationen der Barpianisten am Missouri geklungen haben mögen: Überlebt hat der komponierte, romantisch veredelte „Classic Ragtime“. Scott Jop-lins Beispiel machte aus einer Klavierspielweise ein eigenes Musikgenre. In den USA wurden bis zum Jahr 1917 über 6.000 Ragtime-Kompositionen verlegt. Zeitweise wurden in den USA damals mehr als 300.000 Pianos im Jahr verkauft, ein Familienklavier gab es 1902 schon für 100 Dollar. Für die erweiterten Möglichkeiten des Selbstspielklaviers (Pianola, Play-er Piano) schrieben Komponisten wie Zez Confrey und Charley Straight auch spezielle „Novelty Rags“. Die Ragtime-Mode war so gewaltig, dass man die ersten Zeichen ihres Abklingens 1914 mancherorts als „Heilung von einer Krankheit“ feierte.
Relaxtes Schreiten
Formal sind Scott Joplins Ragtime-Stücke am ehesten mit traditionellen Märschen verwandt. In der Regel werden 8-, 16- oder 32-taktige Formteile aneinandergereiht (AA–BB–CC...). Auch das Tempo orientiert sich am Marsch: Joplins Tempoanweisungen lauten „slow march time“, „not fast“ oder „tempo di marcia“. Der Cakewalk, eine afroamerikanische Pa-rodie auf die Quadrille, soll der Ursprung des Ragtime gewesen sein. Das wünschenswerte Tempo entspricht daher einem relaxten Schreiten oder Flanieren.
Der Bass der linken Hand spielt in den Ragtimes meist vier gleichmäßige Akzente pro Takt – einen durchgängigen Marsch-„Beat“ mit etwas stärkerer Betonung der „2“ und der „4“. Die Melodie der rechten Hand wird in der Regel doppelt so schnell phrasiert. Das Entscheidende an ihr ist die systematische Synkopierung, eben das „ragging the time“, das seinen Ursprung in afrikanischen Kreuzrhythmen haben soll. Im 2/4-Takt fallen die Akzente der Melodie häufig auf die vierte oder sechste Sechzehntelnote, also gezielt neben die „natürlichen“ Taktbetonungen der Bassstimme. Der Marsch fängt an zu hüpfen.
Die Faszinationskraft des Ragtime beruht offenbar auf der Kombination dieser extremen Synkopierung mit einer eher konventionellen Harmonik. In Europa konnte man dem Ragtime um 1900 vor allem auf dem Jahrmarkt und in Varietés begegnen – Schallplatten und Rundfunk gab es ja noch nicht. Das europäische Publikum assoziierte mit Joplins synkopierten Rhythmen maschinenhafte, groteske Bewegungen. Der Ragtime begleitete vorwiegend Aufführungen von Akrobaten, Puppenspielern und Pantomimen.
Der scheinbar bizarre und mechanische Charakter der Musik inspirierte auch Europas Komponisten. Eines der ersten europäischen Echos des Ragtime bildete Erik Saties Klavierstück „Jack in the Box“ von 1899. In den Folgejahren fanden sich Ragtime-Elemente auch in Kompositionen von Antheil, Debussy, Hindemith, Martinu, Milhaud, Ravel, Schulhoff, Strawinsky und anderen. In vielen dieser Stücke lassen sich direkte Anspielungen auf Melodiephrasen aus Joplins „Maple Leaf Rag“ und „The Entertainer“ entdecken.
Platz für einen neuen Stil
Die Ragtime-Mode endete praktisch mit Scott Joplins Tod 1917. Zur gleichen Zeit begann der Siegeszug des Jazz, der den Ragtime verdrängte. Die Übergänge sind allerdings fließend. Bei den Parade-Bands von New Orleans, die den Jazz in die Welt brachten, waren die beliebtesten Märsche tatsächlich Ragtimes wie der „Tiger Rag“. Auch Buddy Bolden, die Vaterfigur des Jazz, nannte es „ragging“, wenn er über Melodien improvisierte und sie rhythmisch veränderte. Jelly Roll Morton, ebenfalls einer der Pioniere des Jazz, setzte als Pianist direkt am Ragtime an. Scott Joplin selbst leitete zeitweise ein Quintett, das auch als Jazzbesetzung funktioniert hätte.
Grundzüge des Jazz
Bei den ersten Jazzaufnahmen ab 1917 standen noch etliche Ragtimes auf dem Programm, auch wenn man bald das Wort „Rag“ im Titel wegließ, um nicht altmodisch zu wirken. Die wichtigsten Elemente des Ragtime – der gleichmäßige Vier-Schläge-Takt, die Betonung der „2“ und der „4“, die synkopisch „vorgezogenen“ Akzente in der Melodie – sind auch Grundzüge des Jazz. Bei den Stride-Pianisten in Harlem wurde das Erbe des Ragtime wieder zu improvisierter Klaviermusik. „Alles, was synkopiert ist, ist grundsätzlich Ragtime“, sagte der Pianist Eubie Blake einmal.