Der Obstmarkt in Bozen. Tagsüber gefüllt mit Menschen auf der Suche nach dem besten Speck, der erfrischendsten Kugel Büffelmozarella oder fruchtigen Roma-Tomaten. Jetzt ist es 22.30 Uhr und alles Essen verschwunden. Dafür hocken auf den geschlossenen Verkaufsständen verschwitzte Menschen, und dicht an dicht gedrängt stehen über 200 andere vor einer kleinen Bühne. Sie klemmen sich an den plätschernden Brunnen am Eck zu den Lauben hin, wo ein schickes Geschäft neben dem anderen liegt.
Auf der Bühne steht links ein Mann, dessen lange Haare fast bis zum Po herabhängen und wild im Takt der Musik schwingen, die er mit einem Synthesizer-Loop erzeugt. Und am Schlagzeug sitzt mit nacktem Oberkörper, schweißüberströmt ein Mann mit nassgeschwitzten kurzen Haaren. Die beiden schaffen es, bei 25 Grad alle Zuhörer zum Tanzen, Wippen, Klatschen zu bekommen. Die Musik? Wild, rhythmisch, laut, frei, vieles improvisiert. Ansteckend. Wie so oft an diesem Ort: Es ist wieder Jazzfestival in Bozen, zum 37. Mal nun schon.
Junge Talente aus Spanien und Portugal und ihre Musik, sie standen im Mittelpunkt des diesjährigen Südtiroler Jazzfestivals. Solo-Piano genauso wie Elektronik-Jazz und Standards mit Drums, Piano, Saxophon und Bass. Das Programm mit den 51 Konzerten haben der künstlerische Leiter Klaus Widmann und sein Team zusammengestellt. Wer in Bozen auftritt, den hat Klaus Widmann persönlich kennengelernt, hier wird nicht von der Stange gebucht – wer ins Alto Adige kommen darf, ist spannend, kreativ, bewegend, emotional – und oft alles gleichzeitig.
Marco Mezquida zum Beispiel. Der 1987 auf Menorca geborene Pianist gab insgesamt fünf Konzerte. Zum einen leitete er das Eröffnungskonzert „Iberian Connection & Guests“ im Waltherhaus, bei dem, Mezquida mitgerechnet, 14 Musikerinnen und Musiker unterschiedliche Horizonte absteckten – von der Vertonung eines katalanischen Gedichts durch die Sängerin Celeste Alias bis hin zu harten, rockigen Sounds des Gitarristen Virxilio Da Silva. Mit wilden Free-Jazz-Wirbeln hatte dieses Konzert überraschend begonnen – und mit den gleichen Klängen hörte es auch auf: Der niederländische Gast Joris Roelofs (Bassklarinette) hatte die betreffende Komposition mitgebracht.
Der Pianist Marco Mezquida war in den Tagen danach unter anderem noch mit seinem virtuosen Programm mit dem Flamenco-Gitarristen Chicuelo in den spektakulären Mauern von Burg Hocheppan zu erleben. Im Duo mit Sängerin Celeste Alias widmete er Lieder dem Mond. Von „Moonlight Serenade“ über die venezolanische Vollmond-Ballade „Tonada de luna llena“ bis hin zu „Fly me to the moon“. Bei Vollmond wär’s perfekt gewesen – das Konzert am Wolfsgrubener See oben am Ritten fand aber am frühen Abend statt – und die Musik wurde begleitet durch das Plätschern von Badenden und Paddelnden auf dem See.
Wein und freie Töne
Grandios Marco Mezquidas Solokonzert in einem Weingut in Neustift. Mit Weinprobe, falls gewünscht, der Flügel ganz nah an den begeisterten Zuhörern, fließend und in vielen Nuancen funkelnd, nicht zuletzt in einer etwa dreiviertelstündigen freien Improvisation gleich zu Beginn. Zum Dahinschmelzen, was bei Temperaturen um die 32 Grad in jedem Fall gelang. Jazzfestival in Südtirol – das heißt: Wandern und Musikhören in einem, wenn man sich in die Höhe aufmacht. Auf den Speikboden zum Beispiel: Beginnend auf 2400 Metern Höhe, finden drei Konzerte nacheinander an drei verschiedenen Stellen statt. Und so verbindet sich entspannendes Wandern bei herrlichstem Wetter mit grandioser Aussicht und Musik. Von der 1991 geborenen Sängerin Magalí Sare aus Barcelona zum Beispiel. Eine Interpretin, die mit hinreißend schöner und ausdrucksstark-feiner Stimme in jedem ihrer Auftritte Bekanntes und Unbekanntes außergewöhnlich lebendig schillern ließ.
Der Flügel wandert oft mit, beim Jazzfestival. Er ist am Weingut, im NOI Techpark in Bozen, auf Hocheppan und auch im Wald. Oben an der Bergstation der Seilbahn in Jenesien bauen ihn die Techniker Matteo und Andrea auf. Er steht auf einem Podest, mitten zwischen den Baumstämmen hoher Kiefern. Der Boden ist nur an wenigen Stellen eben, die Zuschauer sitzen auf Klappstühlen und mitgebrachten Decken auf dem duftenden Waldboden und genießen „Let there be light“ mit Thandi Ntuli am Flügel, Benedikt Reising am Saxophon, Xaver Rüegg am Bass und Paul Amereller am Schlagzeug. Eigenwillige Musik, nur ein Stück mit Gesang – das aber bringt alle zum Strahlen.
Ein amerikanischer Freund
Das Quintett Pipe Dream – ohne jede Pfeife übrigens, denn der englische Ausdruck steht für „Luftschloss“ – beginnt bei glühenden 35 Grad im Kulturzentrum Trevi in Bozen. Den amerikanischen Cellisten Hank Roberts aber, einen stark profilierten Avantgardisten seit den 1980er Jahren, der sich im europäisch geprägten Programm des Festivals exotisch ausnahm, möchten trotz der Hitze so viele hören, dass immer mehr zusätzliche Stühle hereingetragen werden. Auch hier mit dabei: der Flügel. Giorgio Pacorig spielt ihn, dazu Zeno De Rossi am Schlagzeug, Filippo Vignato (2017 der Nachwuchs-Jazz-Preisträger in Burghausen) an der Posaune und Pasquale Mirra am Vibraphon. Ein fesselndes Konzert, immer wieder mit kantig-expressiven Rhythmen vom wie eine Gitarre geschlagenen Cello, das mit den klaren Konturen und kraftvollen Linien der Posaune spannende Dialoge einging. Unzählige Fächer wedelten dabei zur Abkühlung vor den Gesichtern der Besucherinnen, Schweiß floss in Strömen und am Ende – zielgenau in einer Zäsur eines Stücks – ein Donnerschlag, der den erlösenden Gewitterschauer brachte und damit frische Luft in den Raum und in die begeisterten Menschen. Und genau diese frische Luft ist es, die das Jazzfestival Südtirol auch in diesem Jahr wieder durchströmte – zehn Tage lang.