Nach Witten kommen, hat immer etwas von Ankommen. So lang man Witten denken konnte (und gab es wirklich eine Zeit, da dies nicht der Fall war?), ist es diese sehr spezielle Witten-Willkommenskultur, die transportiert, was heute fast zum Luxusgut geworden ist. Wer immer sich als Freund einer neuen Musik durch gewisse neuere Entwicklungen dieser neuen Musik aufgestört oder gar verstört fühlt – in Witten findet er vertrautes, weitgehend verschiebungsfreies Gelände vor. Wofür schon das Entree in den städtischen Saalbau sorgt. Musik – das (so die stumme Botschaft zu Festivalzeiten) sind doch die Partituren! Hier, so rufen sie uns zu, begegnest du des Pudels Kern!
Einer, um den sich alles dreht und drehen muss, sagen die Verlage, die als die bestellten Agenturen der Komponisten daraus eine schöne Praxis gemacht haben: Wer in der Szene auf sich hält, stellt einmal im Jahr in Witten aus, packt aus, was er im Portefeuille hat. Und wer sie dann stehen sieht, wer sich die Eckchen mit ihnen teilt, mit den stöbernden und durchaus auch einkaufenden Festivalbesuchern, kommt nicht umhin festzustellen, dass hier ein Angebot tatsächlich ins Schwarze getroffen hat.
Distanz zur Mode
Was Witten ist und sein will, das verrät zunächst einmal diese Partitur-Performance. Eine, die sich im Programm fortsetzt, verstetigt. Da mag anderswo der Videoprojektion, der Klangtransformation gehuldigt werden, da mag dank Soundmaschine Computer live elektronisches Lautsprechergewitter niederprasseln – in Witten ist davon ebenso wenig zu spüren wie vom aktuellen Gezerre um die so genannten „Neuen Konzeptualisten“. Andererseits – so sehr Harry Vogt von Kurator-Vorgänger Wilfried Brennecke die unaufgeregte Distanz zu den Moden geerbt hat, der Wunsch nach „Qualität und höherem Anspruch“ scheint heute ohne dialektisch geschulten Spürsinn kaum erfüllbar. Zumal, wenn man wie Vogt übergeordnete Thematiken scheut, wie es jüngst noch das Kölner „Acht Brücken“-Festival vorexerziert hat. Ein Festival-Programm neuer Musik muss für Harry Vogt aus der Musik selbst kommen. Nur, seitdem sich die kompositorische Entwicklung immer weiter ausdifferenziert und seitdem, anders als beispielsweise in der Filmkunst auch kein Pendant zu einem Dogma-95-Manifest für substantiellen Ruck und Kontroverse sorgt, seitdem Lager und Lagerdenken respektive „Avantgarde“-Denken unter die Wahrnehmungsschwelle gesunken sind – braucht es vermehrt kuratorisch-detektivischen Spürsinn und Fantasie, wenn es wie in dieser Witten-Ausgabe um Lehrer/Schüler-Beziehungen gehen sollte. In diesem Sinn war Harry Vogt bei Walter Benjamin fündig geworden, demzufolge „Spur“ die „Erscheinung einer Nähe [ist], so fern das sein mag, was sie hinterließ.“ Was in Witten traditionell eine ganze Menge ist.
Ins Zentrum zielend
Wobei Lust und Last dieses Drei-Tage-Marathons dabei ganz auf den Schultern des Haupt-/Mitveranstalters Westdeutscher Rundfunk ruhten, der mit Rundfunkchor und Rundfunk-Sinfonieorchester budgetentlastend gleich zwei eigene Klangkörper ins Rennen geschickt hatte. Ein Trend, der unter eingefleischten Witteanern mit Verwunderung registriert ward. Auf der anderen Seite gab es aber auch jetzt wieder all die Konzerte und Konzertübertragungen aus Museum, Kirche, Schule, Fest- und Theatersaal. Dazu das nicht weniger ins Zentrum zielende Beiprogramm an den Peripherien des Festivals mit musikpädagogischem Labor und musikwissenschaftlicher Reflexion. Nicht zu vergessen. den Heiterkeitsparcour von Klangperformance und Klanginstallation, dieses Mal in Gestalt einer Klangwanderung im bergbauhistorischen Muttental, ausgiebig bespielt vom Schlagquartett Köln.
Exakt vor fünfundzwanzig Jahren (Glückwunsch am Rande!) hatten die Vier hier ihr Gründungskonzert und zwar just mit einem feingeschnittenen Drei-Minuten-„Stück“ von Wolfgang Rihm, das das erweiterte Kölner Quartett auch jetzt wieder in den Reigen ihrer wald- und wetterfesten Stücke aufgenommen hatte. Zusammen mit den von Carola Bauckholt einer ehemaligen Kohle-Verladeeinrichtung abgelauschten Klängen – halliges Knirschen und Schaben, mannigfaltiges Schlagen in hohen bis in tiefdunkle Register –, war es dieser kurzweilige Mini-Rihm, der im Gedächtnis blieb. Was vielleicht auch mit dem Ausgangssetting zu tun hatte, das eine irgendwie prähistorische Zeit heraufbeschwor, in der eine neue Musik noch kein Institutionendach über dem Kopf hatte: Auf einer Wiese, spiegelbildlich dazu auf dem gegenüberliegenden Hang, kauernde Spieler „wie eine Tiergruppe oder wie vergessene, verwilderte Forscher“, die sich in Rihms Fantasie „mitten in der Wüste“ um eine Partitur versammeln, die „ausgehackt“ „im Geröll“ liegt. Ein griffiges Bild: Das Rohe, erdwarm, noch glühend. Speziell darauf musste man fast bis zum Schluss warten in dieser 47. Ausgabe der Wittener Tage.
Zu deren Gravitationszentrum hatte Vogt mit dem Wahl-Österreicher Beat Furrer einmal mehr einen Komponisten gekürt, der erst voriges Jahr zu dessen 60. ausgiebig gefeiert worden war. In Witten war dabei zusätzlich um Furrer und um einen Furrer-Schülerkreis eine ornamentierende Solo-Spur gelegt. Auftragsstücke für Klarinette, Akkordeon, Klavier, Violine, Posaune, eingeflochten in teils groß besetzte Ensemblearbeiten, die mehrheitlich allerdings den Eindruck des Unfertigen mit sich führten, des zu kurz oder gar nicht Gereiften.
Weniger Gefallen als Gefälle auch bei den Ensemblestücken. So bereits im Eröffnungskonzert. Mit „Slow Summer Stay“ durfte Chaya Czernowin eine ganze Werk-Trilogie vorstellen, verteilt auf gleich zwei Orchester, Ensemble KNM Berlin und österreichisches ensemble für neue musik (œnm). Und mit den beiden Teilen „Streams“ und „Lakes“ hatte die Komponistin durchaus auch recht assoziationsreiche Bilder gefunden, nur, um sie im Verwandlungsprozess leider doch ihres Spezifischen zu entkleiden. Aus Ströme und Seen wurde Bewegung und Stille, Qualitäten verwandelten sich in Quantitäten, das Stream-Rauschen, das Lake-Flimmern erschien weniger als Klangfarbentanz denn als mehr oder minder gestreckte Glissandi in der Gitarre und in den Bläsern, wozu ein leicht angeschmutzter Instrumentalton gereicht wurde, dessen Sinn sich ebensowenig erschloss wie die überfallartigen, auf dem Metrum gehämmerten Schlagzeugattacken im Mittelteil. Was im Gedächtnis blieb, war die Form der doppelten Oktett-Besetzung. Erst rechts allein, dann links allein, am Ende zusammen mit der schönen Novität des Doppel-Dirigats, das sich Johannes Kalitzke und Manuel Nawri teilten. Gemessen am Umfang von „Slow Summer Stay“ hatte Lachenmann-Schüler Clemens Gadenstätter mit „Les dernières cris“ ein durchaus vergleichbares Stück im Wittener UA-Kalender, von Kalitzke und dem œnm mit bewundernswerter Energie bis zum Schluss am Kochen gehalten. Indiz hierfür Kontrabassist Michael Seifried, der am Ende mit völlig durchnässtem Hemd dastand.
Das Stück selbst hatte etwas Bebendes. Der Eindruck eines schnaufenden Tiers, das aus irgendwelchen Gründen seinen Kurs verloren hatte, nicht mehr wusste, wohin es gehörte, was es sollte auf der Welt. Sobald es zur Ruhe gekommen schien, folgte nur wieder neues Aufbäumen. Krachend ging da mehrmals Blech zu Boden, ein Pistolenschuss löste sich. Schwerstarbeit allenthalben. Nur, dass man irgendwie nicht schlau wurde, welches Drama sich da nun genau zutragen sollte.
Composer in Witten
In dieser Hinsicht denkbar klar „Spur“ für Streichquartett und Klavier, ein bereits aus dem Jahr 1998 stammendes älteres Furrer-Stück, glanzvoll ausgeführt von Mitgliedern des Ensemble KNM Berlin: Durchgehender Puls, Äquivalenz von hohen Registern im Klavier, irrlichterndem Leggiero und getupften Streicherstimmen dort sowie eine, bei allem Stocken und Rücken, zwingend zielführende Dramatik – darin war uns diese Musik auf einmal ganz nah, mochte sie auch aus noch so großer Ferne kommen.
Die aktuellen Furrer-Stücke hinterließen eher zwiespältige Eindrücke. Ganz so wie Chorstücke sein müssen, die „Enigma“ heißen und geheimnisvolle Prophezeiungen Leonardo da Vincis transportieren, blieb am Ende das Gefühl des Rätselhaften zurück, trotz einer hochpräzisen Ausführung seitens des WDR Rundfunkchors unter einem gewohnt hyperventilierenden Rupert Huber.
Wurde „Enigma“ als Deutsche Erstaufführung präsentiert, so kamen Furrers „Zwei Studien für Kammerorchester“ frisch aus der Komponierstube – und blieben trotz des Einsatzes eines WDR Sinfonieorchesters unter Titus Engel wie sie hießen: Studien in Klangfarbentransmission von dunklen zu hellen Farben mit eingeschnittenen Kontrasten.
Mitlesen überflüssig
Was ein Werk braucht, um über die Rampe zu kommen, um auch die Herzen zu erreichen – dies war zu erleben vor der enttäuschenden, konzertant musizierten, alles Kammermusikalische rigoros aushebelnden, dem Klassizismus zustrebenden Georg-Friedrich-Haas-Oper „Die schöne Wunde“. Davor aber dies: So erratisch auch der Titel des neuen Orchesterwerks von Andreas Dohmen war – „… blinde Worte … (Musik für G.P.H.)“ – was folgte, verleitete das Festival-Publikum rechtens zu Ovationen. Dohmen hatte Sopranistin Sarah Maria Sun eine höllenschwere Schnellsprech- und Gesangspartie geschrieben und Uwe Dierksen eine ebenso huschende Posaunenstimme. Zwei Solisten, die immer wieder Material kommentierend bis ins Ironische brachen und an kammermusikalische Inseln im Orchester weiterreichten. Triller in der Harfe, Klopfen im und auf dem Klavier, zurück in die Stimme, überlagert von der Posaune, wieder ins Orchester und, und, und. All dies jedoch mit glasklarem, bis ins finale Orchester-Pizzicato dynamisch gebautem Höhepunkt, auf dem Punkt ausgelöst von Titus Engel, der buchstäblich alle Hände voll zu tun hatte.
Dass mit der Sprachmaschine des Barockpoeten Georg Philipp Harsdörffer ein dramaturgisches Konzept im Hintergrund stand, konnte man nachlesen. Für den hörenden Mitvollzug dieser Komposition gewordenenen Obsession brauchte man es nicht. Wen der Fluss mitreißt, muss nichts mehr lesen.