Beim diesjährigen Lucerne Festival wurde der Fokus auf dirigierende Frauen gerichtet. Damit glänzte das große Festival erneut mit einem spannenden, inspirierten Programm. Doch auch andernorts präsentiert sich die Schweiz recht umtriebig, so etwa in Davos, Verbier oder am Sarnersee.
Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. Das sagte einst der verstorbene Alt-Kanzler Helmut Schmidt. Nach dieser Logik wäre Michael Haefliger ein Dauerpatient. Jedenfalls hatte der Intendant des Lucerne Festivals bereits einige starke Visionen, die er größtenteils auch verwirklichte. Dafür stehen nicht nur das mit Claudio Abbado begründete Lucerne Festival Orchestra und die mit Pierre Boulez entwickelte Lucerne Festival Academy: Auch die Programme selber sind weit entfernt von rein kulinarischer Häppchen-Kultur samt Star-Glamour, wie man es von vielen Klassik-Festivals gewohnt ist.
Frauen am Pult
In diesem Sommer drehte sich in Luzern alles um das Festival-Motto „Primadonna“. Hierzu wurde auch ein „Erlebnistag“ entworfen, bei dem sich einzig Dirigentinnen präsentierten. Rund zwölf Stunden lang konnte man fünf Frauen am Pult direkt miteinander vergleichen, eine ungeheure Chance, wie man sie im recht trägen Klassik-Betrieb in dieser Form noch nicht geboten bekam. Die Programme dieses Mammut-Projekts waren so vielfältig wie die interpretatorischen Profile.
Den Auftakt stemmte Mirga Gražinyte-Tyla aus Litauen. Mit dem Chamber Orchestra of Europe gestaltete sie die „Pastorale“, Beethovens Sinfonie Nr. 6, sowie „De profundis“ ihrer Landsfrau Ramina Šerkšnytžė. Gegenwärtig ist Gražinyte-Tyla der Shooting-Star unter den Dirigentinnen. Ab Herbst leitet sie das Sinfonieorchester in Birmingham, als Nachfolgerin von Simon Rattle und Andris Nelson. In Luzern sezierte sie die Stimmungsbilder aus Beethovens „Pastorale“ überaus feinsinnig und farbenreich.
Umso konventioneller wirkte indessen ihre Tempowahl. Mit Kenntnissen der historischen Aufführungspraxis hat Gražinyte-Tyla die „Pastorale“ nicht gewürzt, die „Szene am Bach“ sprudelte nicht besonders frisch. Auf andere Weise indifferent blieb auch das Dirigat von Anu Tali aus Estland, zumal in Prokofjews „Symphonie classique“ op. 25 und der „Estnischen Tanzsuite“ von Eduard Tubin die Dynamik insgesamt im Mezzoforte oder Mezzopiano verharrte. Der subtile Humor von Prokofjew blieb Tali größtenteils fremd.
Auch die farbenreiche Klangsinnlichkeit von Gražinyte-Tyla ist Talis Sache nicht, was in Chopins Klavierkonzert Nr. 1 op. 11 zu hörbaren Abstimmungsdifferenzen mit der Solistin Yulianna Avdeeva führte. Dafür aber klang bei ihr das Chamber Orchestra of Europe kompakter und erdiger als bei Gražinytė-Tyla. Ganz anders wiederum Konstantia Gourzi, die mit der Lucerne Festival Academy (LFA) konzertierte: Der Auftritt der gebürtigen Griechin, die in München lehrt und lebt, war programmatisch ein Höhepunkt.
Überdies bestach ihre Leitung mit uneitler Sachlichkeit und Nüchternheit – keineswegs unterkühlt oder distanziert, sondern um ein „Musizieren auf Augenhöhe“ bemüht, wie sie es als Assistentin von Abbado gelernt hatte. Davon profitierten vor allem „Le Sacrifice“ von Iannis Xenakis und „Voyage into the Golden Screen“ von Per Nørgård, die Gourzi mit einer eigenen Uraufführung koppelte: „Ny-él – Two Angels in the White Garden“ op. 65. Das Werk ist Abbado und Boulez gewidmet. Orientalisch anmutende Melodien stoßen auf eruptives Schlagwerk.
Dagegen konzentrierte sich die australisch-schweizerische Elena Schwarz mit der LFA allein auf Olga Neuwirth, die diesjährige Residenz-Komponistin – wohltuend unaufdringlich und präzise. Zu einem Höhepunkt avancierte hier „Eleanor“ mit Bluessängerin (ausdrucksstark: Della Miller) und Schlagwerk (fulminant: Lucas Niggli). Und Maria Schneider aus Amerika? Sie rettete mit feiner, klangsinnlicher Differenzierung in Ausdruck und Dynamik ihre eigenen Werke – eine blumige, klischeereiche Überromanik am Rande zum Kitsch.
Wie staunenswert diese Vielfalt an Profilen der Interpretation in Luzern war, zeigte eine Diskussionsrunde. „Frauen ans Pult! Das Ende einer Männer-Domäne?“, lautete der griffige Titel. Die Moderatorin Gabriela Kaegi wusste zu berichten, dass noch heute lediglich ein Drittel der Dirigierklassen an Musikhochschulen von Frauen besucht würden – nicht nur in der Schweiz. Nur einem verschwindend geringen Bruchteil von dieser ohnehin überschaubaren Zahl gelingt der Sprung auf die Podien der Klassik-Welt.
Beim Lucerne Festival blieb es nicht nur bei diesem „Erlebnistag“. Im Rahmen des Festivals präsentierten sich noch andere Frauen am Pult, neben Barbara Hannigan auch Emmanuelle Haïm. Letztere dirigierte die Wiener Philharmoniker, ein Orchester, das sich bekanntlich erst ab 1996 offiziell für Musikerinnen öffnete und erst zum vierten Mal in seiner langen Geschichte unter der Leitung einer Frau musizierte. Für Haefliger war das diesjährige Festival indessen nur ein Anfang: Man sei „auf den Geschmack“ gekommen und wolle künftig verstärkt auf Frauen setzen.
Ein Schweizer Lockenhaus
Von Luzern nach Davos in Graubünden ist es nur ein Katzensprung, im ideellen Sinn. Dort nämlich hatte Haefliger einst eine erste, frühe Vision entworfen: das Davos Festival. Vor über 30 Jahren war das. Diese Kammerreihe ist eine Art schweizerisches Lockenhaus oder Kuhmo. Musikfreunde kommen zusammen, um sich in lockerer Atmosphäre allein auf die Kunst zu konzentrieren – ein Ort der Begegnung und eine Werkstatt der Interpretation. Dabei präsentieren sich in Davos einzig die jüngeren Musiker-Generationen, und zwar gerade auch unbekannte „Youngsters“.
Wer die Stimmen von Morgen hören möchte, kommt um Davos nicht herum. Überdies leitet seit zwei Jahren mit Reto Bieri nicht nur ein aufregender Klarinettist und Pädagoge das Festival, sondern ein kenntnisreicher Programmierer. In diesem Jahr glänzte die Reihe zuvörderst mit einer umfassenden Werkschau des 1937 geborenen Ukrainers Valentin Silvestrov, samt Uraufführung einer kurzen „Elegie“ für Bratsche solo von 2010/16 durch Yuko Hara vom wunderbaren Quatuor Ardeo.
Das Porträt machte hörbar, dass schon in frühen, in der Sowjetunion kontrovers diskutierten Werken wie dem Klaviertrio „Drama“ von 1970/71 der spätere Silvestrov steckt. Es ist der Hang zum Spirituellen und Metaphysischen, die zitathafte Verfremdung von Tradition und früher Moderne, die Sehnsucht nach der Melodie, die den einstigen „Kiewer Avantgardisten“ und den späteren „Neoromantiker“ prägen. Manche programmatische Kopplung irritierte Silvestrov, so etwa die Verbindung seines Schaffens mit John Cage – obwohl auch dieser spirituelle Meditationen geschaffen hatte. Die Begegnungen mit Silvestrov in Davos waren generell recht sonderbar. Beim offiziellen Gespräch waren politische Fragen unerwünscht, obschon Silvestrov den aktuellen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine wahrnimmt. Jüngst hat er „Majdan“-Gesänge komponiert, Gebete für die Opfer der Proteste in Kiew von 2014. Beim Verbier Festival im Kanton Wallis darf man hingegen eine konzise Dramaturgie nicht erwarten. Hier setzt man vor allem auf Klassik-Stars. Dafür aber glänzt das Festival mit einer bemerkenswerten Orchester-Werkstatt in Gestalt von drei hauseigenen Klangkörpern.
Orchesterwerkstatt
Der Startschuss fiel im Jahr 2000 mit dem Verbier Festival Orchestra (VFO). Dieses große Sinfonieorchester vereint Musiker von 18 bis 28 Jahren. Bei Vorspielen in New York, Paris, Köln, Zürich, Genf, Helsinki und St. Petersburg werden sie ausgewählt. In Verbier arbeiten sie mit Solisten des Metropolitan Opera Orchestra, um beim Festival sechs Konzerte zu stemmen. Chefdirigent ist Charles Dutoit. Davor greift das Verbier Festival Junior Orchestra (VFJO), vormals auch bekannt als „Music Camp“.
Im Jahr 2013 gegründet und von Daniel Harding geleitet, spricht es die 15- bis 18-Jährigen an. Sie sollen nicht nur den Orchester-Alltag erleben, sondern für ihn fitgemacht werden – mental und körperlich. Yoga und autogenes Training, Sport und Meditation: Auch solche Angebote, die die Musikergesundheit steigern, werden geschnürt. Dagegen setzt sich das 2005 gegründete Verbier Festival Chamber Orchestra (VFCO) aus ehemaligen Mitgliedern des VFO zusammen, die heute selbst in Orchestern spielen. Unter dem Chefdirigenten Gábor Takács-Nagy realisierten sie jetzt die europäische Erstaufführung des Klavierkonzerts aus der Feder des aufstrebenden Star-Pianisten Daniil Trifonov (in Verbier zugleich der Solist). Das dreisätzige Werk bedient eine vollgriffige Virtuosität, die zwischen Spätromantik und früher russischer Moderne changiert – mit einer Brise Filmmusik. Trifonov reitet auf der Nostalgiewelle, wobei in Verbier vor allem das VFCO siegte. Und doch lässt sich die Orchester-Werkstatt in Verbier nicht mit der singulären Lucerne Festival Academy vergleichen.
Nach dem Tod von Boulez leiten nun Matthias Pintscher und Wolfgang Rihm die Geschicke dieser Luzerner Nachwuchsschmiede, um junge Instrumentalisten, Dirigenten und Komponisten in zeitgenössischer Musik profund zu schulen. Und auch sonst ist Haefliger stets auf der Suche nach neuen, nachhaltigen Synergieeffekten. Ein solcher könnte bald ebenso zwischen dem Lucerne Festival und der kleinen Kammerreihe „erstKlassik“ am Sarnersee entwickelt werden. Jedenfalls wäre das für beide Seite äußerst lohnenswert.
Vor den Toren Luzerns gelegen, wurde das Festival vor bald 10 Jahren von zwei Schweizer Musikern des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks (BR) gegründet. Alljährlich präsentieren sich gegen Ende August BR-Symphoniker, um in fast schon familiärem Rahmen gemeinsam zu musizieren. Für das Lucerne Festival ist das deswegen interessant, weil das Münchner Spitzenorchester beim Osterfestival eine feste Residenz hat. Am Sarnersee lassen sich die BR-Musiker gewissermaßen privat erleben, was ganz bewusst Teil des Konzepts ist. Das schafft eine zusätzliche Identifikation, von der auch das große Lucerne Festival profitieren könnte.