„Bildungsoffensive durch Neuorientierung des Musikunterrichts“. So lautete der Titel einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) vom Jahr 2004 (siehe die Beiträge von Jürgen Vogt und Hermann Wilske in der nmz 5/05). Wichtiger Bestandteil der KAS-Studie ist ein verbindlicher Kanon von musikalischen Werken für die drei Schulformen Gymnasium, Real- und Hauptschule. Im August 2006 veröffentlichte der ConBrio Verlag das Buch „Bildungsoffensive Musikunterricht“ - Das Grundsatzpapier der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Diskussion“, das sich kritisch mit den Thesen der KAS auseinandersetzt. In einer Podiumsdiskussion in Berlin diskutierten am 30. August 2006 Max Fuchs (Deutscher Kulturrat), Jörg-Dieter Gauger (Konrad-Adenauer-Stiftung), Theo Geißler (ConBrio Verlag), Hermann Jo-sef Kaiser (Universität Hamburg und Initiator des Buches) sowie Hermann Wilske (VDS Baden-Württemberg) über das Für und Wider der Studie.
Birgit Jank: Anlass für dieses Buch war eine 2004 vorgelegte Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung mit dem Titel „Bildungsoffensive durch Neuorientierung des Musikunterrichts“. Diese Studie hat in den letzten Monaten viele und zum Teil recht kontroverse Diskussionen ausgelöst. Eine Reihe jüngerer Autoren aus der Musikpädagogik, der Musikdidaktik hat sich dieser Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung zugewandt und versucht, Argumentationen zu entwickeln. Der Arbeitskreis für Schulmusik hat diese inhaltlichen Positionen unterstützt und das nun vorliegende Buch ermöglicht. Ich würde mir wünschen, dass bei allen kontroversen Positionen dazu beigetragen wird, dass es eine Annäherung gibt zwischen den intensiven Diskussionen in den fachlichen Zirkeln und der Bildungspolitik, der Kulturpolitik, der Politik überhaupt.
Initialzündung zur Studie
Jörg-Dieter Gauger: Uns hat sich die Frage gestellt: Was an Allgemeinbildung haben unsere Schulen eigentlich weiterzugeben? Wobei für mich Allgemeinbildung nicht funktional, sondern ganzheitlich verstanden werden soll. Gemeint ist damit die Entfaltung der Dimension Persönlichkeit und dazu gehört auch die künstlerisch-ästhetische Seite. Nach einer Meldung der FAZ etwa Ende 2004 richtet eine deutsche Großbank für ihre Nachwuchsmanager Kurse ein, in denen sie mit Musik konfrontiert werden. Sie lernen dort, dass Beethoven neun Sinfonien, aber nur eine Oper geschrieben habe und dass Mozart und Haydn zur deutschen Klassik gehören. Man kann sich nun fragen: Was haben die aus den Schulen eigentlich mitgenommen? Und ein letztes Zitat: Hans-Otto Maier spricht im Spiegel, ich glaube, vom Juli dieses Jahres, vom kulturellen Gedächtnis, das sich immer weiter auflöse, das immer weiter verdampfe, weil die Schulen dazu nichts Entsprechendes mehr beitrügen. Das sind Hintergründe, die unsere ganze Bildungsoffensive von vornherein begleitet haben, nämlich in der Frage nicht nur nach dem Fächerkanon, sondern danach, was eigentlich in den Fächern geschieht. Damit komme ich zur ersten kleinen Reflexion, was Schule heute eigentlich sein soll. Die Schule ist Basislager für zukünftige Bildungsprozesse, die dann natürlich individuell sind. Die Schule als Ort, an dem ich etwas lerne, was ich woanders nicht lernen kann. Die Balance, die Schule immer leistet, ist die Tradierung der kulturellen Güter in Kombination mit dem Anfang der Moderne. Was soll in den Fächern an Verbindlichem für alle Schulen geschehen? Es sollten Inhalte sein, die im kulturellen Diskurs einer Gesellschaft heute eine Rolle spielen. Wenn Sie sich ein Theater- oder ein Musikprogramm ansehen, stoßen Sie immer wieder auf dieselben Namen, wie Mozart, Schumann und so weiter. Es geht uns darum, dass Schüler damit konfrontiert werden, um an diesem kulturellen Diskurs teilzuhaben. Dafür scheint uns, zumindest im Sinne einer gewissen Verbindlichkeit, unser Vorschlag durchaus diskussionswürdig, wobei wir im Einzelnen ja einen offenen Kanon geschrieben haben, im Sinne der Auswechselbarkeit einzelner Empfehlungen.
Die Reaktion in Buchform
Hermann Josef Kaiser: Der Anlass unseres Buches war ein großes Erschrecken über diese Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung. Ein Erschrecken aufgrund der Befürchtung, dass Entwicklungen im Musikunterricht, die seit 1968 stattgefunden hatten, nun wieder auf den Stand von 1968 zurückgedrängt werden. Der hier präsentierte Kanon versucht, musikalisch etwas zu sichern, das es nicht mehr gibt, nämlich ein einheitliches und universelles Bild von Musik. Er versucht, bildungspolitisch ein Modell von Schule zu restaurieren, das zu Beginn seines Entstehens, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, eine Human-Funktion hatte. Seine Restauration heute dagegen wäre falsch, da sich die Bedingungen grundlegend verändert haben. Ich deutete eben schon an, dass wir den Kanon als Steuerungsinstrument dieser Perspektive verstanden haben, und ich gehe dabei auf drei Punkte ein: der Kanon als Faktum, der Kanon in seiner Inhaltlichkeit und in seiner Funktionalität. Der Kanon als Faktum ist ein Instrument der Differenzierung auf mehreren Ebenen. Er ist ein Instrument zur Auszeichnung und impliziten und expliziten Abwertung. Er ist ein Instrument institutioneller Legitimierungen, in Ersetzung von Verbindlichkeiten.
Der Kanon in seiner Inhaltlichkeit definiert einen Musikbegriff von beträchtlicher Inkonsistenz. Er präsentiert einen defizienten Modus der Organisation von Musikunterricht, indem er die Steuerung von Unterricht allein von seinen Stoffen her zu leisten vorgibt. Ein Kanon, der nicht sagt, wie mit seinen Stoffen umgegangen werden soll oder muss, führt sich selbst ad absurdum. Dieser Kanon muss zwangsläufig in die Irre laufen, da er gegenwärtige musikalische Entwicklungen selbst in der von ihm favorisierten E-Musik nicht zur Kenntnis nimmt.
Untersucht man die Funktionen, kann man drei Dimensionen unterscheiden: eine schulpolitische, eine bildungspolitische und eine gesellschaftspolitische. Schulpolitisch soll ein dreigliedriges Schulsystem gesichert werden. Das Differenzierungskriterium für diese Gliederung wird nicht explizit gemacht. Bildungspolitisch versucht das KAS-Papier, ein Wissen als gesellschaftlich notwendiges Wissen zu definieren, welches die Konstitution der Persönlichkeit garantiert. Auf die Unmöglichkeit dieses Unterfangens ist verschiedentlich aufmerksam gemacht worden. Gesellschaftspolitisch wird versucht, gewissermaßen über Musikunterricht eine soziale Distinktion zu vollziehen beziehungsweise gegenwärtige Versuche in dieser Richtung nachhaltig zu unterstützen.
Politik und Fachwissenschaft
Jank: Es geht hier nicht nur um zwei zum Teil auch sehr kontroverse Positionen um das, was musikalische Bildung ist. Es geht auch um zwei Ebenen: die politische Ebene und die Fachwissenschaft, die sich akribisch auf wissenschaftliche Standards bezieht. Max Fuchs hat in Vorbereitung auf diese Veranstaltung heute einen sehr schönen Satz geprägt: „Sinnstiftung von oben wird nicht mehr möglich sein.“ Das ist, glaube ich, ein Gedanke, der in der jüngeren Musikpädagogik sofort unterschrieben wird. Wenn das nicht mehr geht, dass man Sinnstiftung von oben – ob über den Kanon, ob über andere Dinge – initiieren kann, wie denn dann?
Max Fuchs: In meinem Thesenpapier zu dieser Diskussion (siehe „Zehn Thesen und ein Fazit“ auf Seite 5) habe ich das Thema des Kanons eingeordnet in die Debatte, die wir als Kulturrat im Moment heftig führen: die Debatte über Leitkultur. Ich habe versucht zu identifizieren, dass da nicht böswillige Menschen dahinter stehen, die uns mental vergewaltigen wollen, sondern eine gesellschaftliche Notlage, die etwas mit der Entwicklung der Moderne zu tun hat, mit dem Wegbrechen von großen Sinnstiftungsinstanzen, sei es Kirche, seien es Parteien. Es ist kein Zufall, dass diese Leitkulturdebatte zu einem Zeitpunkt kommt, an dem weitgehend die Tatsache akzeptiert wird, dass Deutschland ein Zuwanderungsland ist.
In dem Moment, in dem man das akzeptiert, stellt sich sofort die Frage: Wo bleiben wir denn? Woran muss ich mich in Zukunft orientieren? Das heißt, ich sehe eine Legitimität in dem Versuch, habe aber die Befürchtung, dass das überhaupt nicht funktionieren wird. Wenn Herr Gauger sagt, das ist ein Vorschlag und daran soll man das abarbeiten, dann kann ich damit sehr gut umgehen.
Dann verdient dieser Vorschlag auch dieses Buch, das sich kritisch damit auseinandersetzt. Was in der Tat nicht mehr geht, ist, dass eine zentrale Instanz, zum Beispiel der Staat, der durchaus in Form der Schulpolitik eine gewisse Macht hierzu hätte, das dann durchsetzt. Kultur ist nicht mehr wie ein Block, den ich an andere weitergebe, sondern die Leute wollen das, was sie als lebendige Kultur bezeichnen, auch mit herstellen und mitgestalten.
Öffentlichkeit schaffen für ein brisantes Thema
Jank: Die Brisanz an diesem Thema ist, dass ein Kanon, der in den Bildungsbereich kommt, natürlich auch politische Auswirkung vor Ort in den Schulen hat. Die Frage an Theo Geißler: Wieso engagiert sich ein Verlag wie ConBrio, wie die neue musikzeitung, in der Art und Weise, wie er es in den letzten Jahren getan hat, für musikalische Bildung? So viele Erdbeeren sind da, glaube ich, nicht zu ernten.
Theo Geißler: Im Grunde genommen aus reinem Selbsterhaltungstrieb. Wir begleiten mit unseren Publikationen, mit unserem sonstigen verlegerischen Wirken das Musikleben eher politisch als rein fachlich. Wir haben von dieser Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung erfahren und haben uns gefreut. Wir haben damit erst mal einen Stoff, eine Substanz, die wir auseinandernehmen können. Wir haben erfahren, dass sich eine ganze Reihe kompetenter Köpfe mit dieser Studie sehr substantiell auseinandergesetzt hat. Wir waren dann eigentlich sehr glücklich darüber, dass wenigstens eine parteinahe Stiftung in diesem Land sich mit dem Thema Musikunterricht beschäftigt. Das ist bei den anderen politischen Parteien und ihren Ablegern in dieser Präzision durchaus nicht der Fall gewesen. Wir gucken natürlich auch: Wie verändert sich die Gesellschaft, wie verändert sich die Rezeption? Und dabei wurde uns klar: Das, was seit zehn, fünfzehn Jahren als Musikfarbe bei uns wirksam ist, das kommt in dieser Studie nicht vor.
Wir haben die Bedenken, dass durch diese Kanonisierung Distinktion geschaffen wird, an Stellen, wo sie eigentlich nicht angebracht wäre. Trotzdem sind wir letztlich dankbar und froh, weil wir glauben: Die Musikpädagogik verdient es, etwas bewusster und auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Wie schwierig es ist, das zu erreichen, haben wir bei der Vorbereitung dieses Treffens auch erlebt. Wir haben eine ganze Reihe von Politikerinnen und Politikern gebeten, hier aufs Podium zu kommen. Es ist uns nicht gelungen. Bei uns hat sich der Verdacht eingenistet: Sie tun das nicht, weil sie ein bisschen Angst haben, dass sie inkompetent sind. Sie wollen sich vor einem Fachgremium möglicherweise nicht bloßstellen lassen oder auch – wovor die Politiker am meisten Angst haben – sich festlegen lassen.
Der Kanon, ein Leit-Faden?
Jank: Herr Wilske, Sie haben sich in einem Beitrag in der nmz klar zu dieser Studie positioniert. Darf ich Sie bitten, aus Ihrer Sicht, aus baden-württembergischer Sicht, auch aus Sicht eines praktizierenden Schulmusikers, zu sagen: Wie ist Ihre Erwartung an diese Studie? Wenn Sie einen Kanon begrüßen, müssen Sie ja auch Argumente dafür haben, dass es an der Zeit ist, dass ein Kanon kommt.
Hermann Wilske: Der Schulmusik in Deutschland geht es nicht gut. Nicht wenige sagen, sie stünde gar am Rande des Abgrundes. Wenn in diesem Kontext die größte deutsche Volkspartei ein Papier entwickelt, das zur Weiterentwicklung der Schulmusik und auch zur Revision vorhandener Tendenzen beiträgt, dann ist es eine Steilvorlage, wie sie für die Schulmusik größer gar nicht sein könnte. Ich bedaure es umso mehr, nachdem ich die 151 Seiten dieses Buches gelesen habe, dass es eigentlich gar kein Diskussionspapier ist, sondern mehr ein Abwehrpapier. Auf Baden-Württemberg bezogen ist die Situation ganz klar. Seit vielen Jahrzehnten haben wir in Baden-Württemberg nichts anderes als diesen Kanon, mit dem wir arbeiten. Es besteht zwischen dem VDS Baden-Württemberg und dem Kultusministerium ein völliger Konsens darüber, dass dieses KAS-Papier die Leitlinie für die nächsten Jahre ist. Im Bayerischen Kultusministerium sieht man diese Dinge exakt genauso. Vor diesem Hintergrund müssen Sie bedenken, dass das, was an Schulmusik noch erhalten ist, in Baden-Württemberg und in Bayern, sich durchaus sehen lassen kann, dass es aber dort, wo die Positionen derer gelten, die diese Anti-Schrift hier verfasst haben, um die Schulmusik eher schlecht steht. Wir arbeiten mit dieser Studie. Sie ist wichtiger Bestandteil für das Zentralabitur. Es gibt pädagogische Hilfsmittel, die gerade auf der Grundlage des Kanons für Lehrer enorme Materialien bereitstellen. Ich möchte niemals auf diesen Kanon verzichten.
Jank: Zum Verständnis für das Publikum: Die Studie präsentiert einen Kanon, der Werke auflistet; es sind musikalische Epochen eingeteilt und es sind Komponisten benannt mit ihrem Werk. Die populäre Szene kommt in diesem Werke-Kanon ein bisschen schlecht weg. Warum diese Werkaufstellung, warum genau diese Werke, die im Kanon vorkommen? Müssten in einer seriösen Kanon-Aufstellung nicht auch Begründungsmodelle mit abrufbar sein?
Gauger: Wir reden von kultureller Identität. Jetzt frage ich mich, wie eine kulturelle Identität in Deutschland aussieht, außer, dass sie irgendwie deutsch sei. Was ist denn das, diese deutsche kulturelle Identität? Es gibt ein grundsätzliches Manko der Positionen, die in diesem Buch enthalten sind. Ich habe überhaupt keine Antwort gefunden auf das, was die Autoren nun selber wollen. Welche Inhalte sie denn haben wollen, das ist überhaupt nicht zu erkennen. Eben war von sozialer Distinktion die Rede. Eines ist sicherlich klar: dass wir am gegliederten Schulwesen festhalten. Distinktiv, selektiv ist jede Schule. Sie unterscheidet nach Begabungen und nach Leistungswille. Wenn ich mich nicht einbringe, dann ist Schule natürlich etwas Selektives. Insofern ist ein Kanon oder, wörtlich übersetzt, ein Leit-Faden, nicht sozial distinktiv; er soll ja für alle gelten, nur unterschiedlich in den Anforderungen, die er stellt. Niemand wird bestreiten, dass es in Deutschland unterschiedliche Begabungsprofile gibt. Für unterschiedliche Begabungsprofile muss man auch Unterschiedliches anbieten. Wenn man den Gesamtkontext, nämlich Begegnung mit Kultur im durchaus traditionellen Sinne für wertvoll hält.
Kaiser: Erstens: Hier wird formuliert: „Im Zentrum des Unterrichts steht das jeweilige Musikstück. Die einzelnen Felder ergänzen sich integrativ.“ Damit ist für mich der Kanon gestorben. Für mich ist der Schüler im Zentrum des Unterrichts, und nicht das Musikstück, und vor allen Dingen auch die Art und Weise, in der eine Schülerin oder ein Schüler mit dem Musikstück umgeht. Zweitens: Wenn ich hier zum Beispiel im Kanon lese, dass Pacifique 231 von Honegger nur etwas für die Hauptschule sei, dann bin ich überrascht. Jeder, der Musik in der Schule unterrichtet, weiß, dass man dieses Stück auch sehr gut in der Oberstufe behandeln kann, nur eben in einer ganz anderen Form. Die spezifische Umgangsweise mit einem Musikstück ist das Kriterium für die Möglichkeit seiner Aktualisierung auf den unterschiedlichen Schulstufen. Dritter Gesichtspunkt: Dieser Kanon sagt nirgendwo etwas darüber aus, wie Musik gelernt wird. Wenn ich auf Wissenskontext hinaus will, dann kann ich jemandem ein Lexikon in die Hand geben. Aber ob er dann etwas begriffen hat, das ist eine ganz andere Sache. Und: Ohne musikalische Praxis in der Schule ist es aus meiner Sicht unsinnig, überhaupt Musikunterricht zu machen. Wissen über Musik kann man sich lesend aneignen. Aber die Art und Weise, wie man mit Musik umgehen kann, die vielfältigen Möglichkeiten das zu vermitteln ist ja gerade das Ziel eines guten Lehrers. Noch eines: Dieser Kanon repräsentiert nicht, wie behauptet wird, die gegenwärtige Musikkultur. Es handelt sich um einen willkürlichen Ausschnitt, der durch einen anderen mit demselben Recht ersetzt werden könnte. Ganz abgesehen davon, dass die Leitlinie in sich inkonsistent ist. Denn auf der einen Seite spricht das KAS-Papier vom Kern-Curriculum, auf der anderen Seite von Kanon. Ein Kern-Curriculum ist etwas ganz anderes als ein Kanon.
Tradition kontra Moderne?
Jank: Ich stelle jetzt die Frage noch einmal in den Raum: Was bringt der Kanon dem Schüler?
Gauger: Wenn der Schulunterricht eines jungen Menschen beendet ist und dieser in die Welt hinauskommt, dann muss er mit dem, was ihn umgibt, kulturell etwas anfangen können. Er ist ja völlig frei, seine eigenen Bildungserlebnisse zu suchen. Bei einem Kanon bis 1850 oder etwa 1880 wird man sich leicht verständigen können, wer denn die großen deutschen Komponisten seien, die wir vermitteln sollen. Mit der Moderne verhält es sich immer anders und zwar deshalb, weil sich die Moderne übermorgen wieder als eine neue Moderne überholt.
Jürgen Terhag (aus dem Publikum): Können Sie mir bitte erklären, warum ein Hauptschüler die Beatles kennen lernen soll und ein Realschüler die Rolling Stones?
Gauger: Das kann man sicher unterschiedlich sehen. Es ist ja ein offener Kanon. Bei der modernen Musik wie der Rock- und Popmusik, von der ich offen gesagt nicht viel verstehe, ist es mir relativ gleichgültig. Mir geht es eigentlich um den Traditionsbestand, den ich auch über einen solchen Kanon hinüberretten will.
Spannungsfeld Realität
Geißler: Woher kommt es, meinen Sie, dass die so genannten harten Fächer, die ja nicht umsonst hart genannt werden, innerhalb der schulischen Hierarchie und auch innerhalb der Zeitverteilung in der Schule so viel Platz, so viel Bedeutung, so viel Wichtigkeit haben? Woher kommt es auf der anderen Seite, dass in allen Studien, die uns zugänglich sind, der Musikunterricht in der Hackordnung der Fächer ja doch an hinterster Stelle steht? Und glauben Sie, dass man mit dem Kanon heute überhaupt noch einen Boden hat für die musikalische Realität, die ja von vielen sehr gut denkenden und verdienenden Miterziehern gestaltet wird?
Gauger: Was uns Sorge macht, ist die Ökonomisierung von Bildungsprozessen mit der Fragestellung „Was nützt das? Was bringt das? Was trägt das für den Standort Deutschland bei?“. Dieser Ökonomisierung wollen wir entgegenwirken, weil wir der Auffassung sind, dass Bildung etwas Umfassenderes ist. Bildung muss also mehr sein als die Qualifizierung für eine bestimmte Tätigkeit im Leben, für eine Zukunft, von der keiner weiß, wie sie aussehen wird.
Fuchs: Ich finde hier eine Reihe von Anknüpfungspunkten, die ich für wichtig halte. Etwa, was die Beschreibung von Schule angeht, die ja wirklich ständig funktionalisiert wird, sei es ökonomisch, sei es für gesellschaftliche Problemlagen. Die „harten Fächer“, Herr Geißler! Ich bin ja auch ein berufsmäßiger Lobbyist für kulturelle Bildung. Aber auch die Naturwissenschaftslehrer leiden unter der Vernachlässigung der eigenen Fächer, das ist auf alle Fächer übertragbar. Ich kann auch diese Sehnsucht danach, über einen gemeinsamen Fundus zu verfügen, verstehen. Aber den gemeinsamen Wissensfundus gibt es nicht mehr.
Herr Gauger, zu glauben, es gäbe da ein paar einfache Dinge, die jeder in seinem Musikschrank wiederfindet und die man benennen könne – und mehr wäre es nicht. Genauso unterschätzt man dieses Inhaltsproblem. Die Didaktik hat sich mindestens seit Comenius und Ratke genau an diesem Inhaltsproblem vergeblich abgearbeitet. Letztlich ist Schule natürlich ein politisches Instrument, und dann wird die Entscheidung über den Lehrplan auch politisch gefällt. Es ist eine unglaublich schwere Frage, mit welchem Wissen heute Kinder, Jugendliche für die Zukunft sozusagen ausgestattet werden können. Aber ich glaube, diese Form von Selbstgewissheit ist unangebracht: dass dieser Kanon, der als Diskussionsvorschlag willkommen ist, das Inhaltsproblem löst mit einem Brachialakt der Setzung, demokratisch nicht legitimiert, fachlich äußerst zweifelhaft, wie es jeder andere Vorschlag auch wäre. Selbst der Hinweis auf kulturelle Identität stört mich. Identität ist kein Ding mehr. Hier hat auch die Sozialwissenschaft in den letzten 30 Jahren Fortschritte erzielt zu einem konstruktiven Identitätsbegriff, man redet von Identitätskonstruktionen, Identitätsarbeit. Identität ist nichts, was man sich vorsetzen lassen kann. Und gerade die Frage, was kulturelle und nationale Identität sei, kann man nicht mit so einer verharmlosenden Bemerkung beantworten: „Das sind ja alles Schallplatten, die ich auch in meinem Schrank habe.“
Jank: Es steht für mich noch die Frage an die Autorengruppe im Raum, ob denn ein Desiderat an Perspektiven zu bilanzieren ist oder u u ob es nicht doch eigene Vorstellungen der Autorinnen und Autoren für die Gestaltung eines gelingenden Musikunterrichts im Buch gibt.
Gemeinsame Perspektiven
Kaiser: Ich kann da nicht für alle sprechen. Für mich ist die Frage: Müssen wir nicht die ganze Kiste umdrehen und sagen: Wir wollen, dass ganz viel Musik in der Schule präsent ist!? Aber es gibt verschiedene Formen. Musik kann als Unterricht da sein, als freie Tätigkeit, als Arbeitsgemeinschaft. Wie können wir Musik in der Schule so interessant machen, dass von da aus Fragen entstehen, aus denen heraus sich Unterricht lohnt und gemacht wird? Ich würde noch weitergehen und sagen: Wir haben so viel wunderbare Musik seit ein paar tausend Jahren, dass es wirklich nahezu beliebig ist, welche man im Unterricht thematisiert. Die Wahl der Musiken hängt zweifellos ganz wesentlich davon ab, was man für die Schüler/-innen sichtbar, genauer: erhörbar und erlebbar machen möchte.
Jank: Was kann es an gemeinsamer Perspektive geben? Die Antworten sind ja bereits angeklungen. Deshalb: Wie können wir dieses Grundanliegen, einen guten Musikunterricht zu befördern, mit allen Facetten, die man da im Kopf hat, nach vorne bringen?
Geißler: Als ich die Studie zum ersten Mal las, dachte ich: Da haben sich ein paar Recken zusammengefunden, die schmieden ein schönes Schild zur Rettung unseres bildungsbürgerlichen Horizontes, während durch die Luft die Pershing schwirren. Ich denke, unser Ziel muss sein, die 20 Jahre Erfahrung, die praktische Erfahrung, die Entwicklung, die das Fach genommen hat, in Verbindung zu bringen mit dem Fundament, das so eine Stiftungsarbeit leisten und liefern kann. Für das Fach ist es neben einem dauernden Nachdenken, wie es arbeitet, wie es qualifiziert und emphathisch seinen Gegenstand an die Schüler bringt, wichtig, dass es in der Gesellschaft eine andere Wahrnehmung bekommt.
Gauger: Ich habe mich gefreut, dass auf 14 Seiten, die unsere Studie ausmacht, nun auf 160 Seiten im Buch geantwortet wird. Ich glaube, mit keinem politischen Papier der Stiftung oder der Union ist jemals eine solche Resonanz erzielt worden. Was mir aber zeigt, dass hier Gesprächsbedarf besteht. Es ist sicherlich wichtig, dass man bei einer öffentlichen Veranstaltung darauf einsteigt. Aber man müsste vielleicht auch im kleinen Kreise einmal solche Gespräche organisieren.
Fuchs: Dieser Streit hier ist ja quasi ein Familienstreit. Ich finde viele Gemeinsamkeiten auch in diesem Buch. Gestört hat mich, aber vermutlich muss das so sein, dass es in Form einer politischen Kampfschrift geschrieben ist. Jetzt, glaube ich, müsste man doch zu Gemeinsamkeiten kommen. Ich sehe zum Beispiel eine gute Perspektive in der Ganztagsschule. Da gibt es eine Menge an Möglichkeiten, auch ganz praktisch, durch musikalisches Erleben und Tun.
Fach Musik bleibt attraktiv
Wilske: Es geht vor allem um das voneinander Lernen. Erst vorhin wurde ja davon gesprochen, dass in diesem KAS-Papier die Musikpädagogik der letzten drei Jahrzehnte ausgeblendet sei. Wenn dem so ist, dann hat das vermutlich seine Gründe.
Die Musikpädagogik der letzten Jahrzehnte hat natürlich enormen Reichtum gebracht, aber sie hat die Stellung des Kunstwerkes und der musikalischen Kultur verlagert zu Gunsten eines Musikunterrichts, der in den sekundären und tertiären Bereich ausweicht. In diesem Buch finden sich Vorschläge für den Oberstufenunterricht, zum Beispiel: „Die Frauen in Mozarts Opern“.
Das sind Dinge, die über die Musik letztlich nichts aussagen, die das Kunstwerk an sich zu einer Klangtapete revidiert, um weltanschauliche oder ethische Probleme zu befördern. Da müssen wir zurück zur Tradition, sonst wird unser Land ein anderes und wird seine kulturelle Identität verlieren. Das Andere ist: Wir sollten Musik nicht schlecht reden. Hier war ein paar Mal von der Hackordnung und vom Wahlverhalten der Schüler die Rede. Es stimmt nicht. Und je schlechter wir das Fach reden, umso mehr wird es zu einer self fulfillling prophecy. Ich möchte daran erinnern, dass es vor zweieinhalb Jahren eine Untersuchung gegeben hat unter zehn Prozent aller Gymnasiasten in Baden-Württemberg und dem Statistischen Landesamt.
Das Fach Musik stand in der Attraktivität des Unterrichtes exakt an dritter Stelle, und zwar vor allen so genannten harten Fächern. Es ist sehr wohl eine große Akzeptanz für unser Fach da, vor allem dann, wenn es regelmäßig auf allen Stufen unterrichtet werden kann.