Musikende, Atmo, Achtung Blende, jetzt Zuspielung Fabian Maul: „Es war unheimlich staubig, und man hat sehr geschwitzt. Das wurde, je länger man stand, anstrengend. Bei mir“ – O-Ton Eva-Maria Preuss – „ist es so, dass ich noch genau diesen einen Moment weiß. Wir waren in Bauarbeiterklamotten, mit Helmen, und in dieser Zementfabrik. Da waren dann Scheinwerfer, ganz bunt, alles sehr schön. Wir standen da und hatten einen Moment Stille und dann – Start Musik 3 – war da dieses Bambuso. Ein Instrument aus Bambusröhren und mit zwanzigtausend Geräuschen, es hat so einen leicht hypnotischen Klang. Wir standen da und haben nur dieses Bambuso gehört. Das bleibt mir in Erinnerung…“.
Aufblenden, zwanzig Sekunden frei stehen lassen, Schnitt. Schöne Gegensätzlichkeit, gespeist aus offenbar stark emotionalisiertem eigenen Erleben und Tun. Musikwissenschaftlich nicht ganz korrekt, dafür authentisch. Die zwei Schüler des Leininger Gymnasiums Grünstadt, die man im Herbst 2008 Sonntagnachmittag 15.05 Uhr deutschlandweit im Radio hört, sind Zeugen und Mitwirkende eines bemerkenswerten Spektakels. Sigune von Ostens Event „Mensch Maschine – Klang Maschine“ ist mehr als ein konventionelles Konzert. Die Sängerin realisiert es im Juni 2008 mit Profis und Laien im Zementwerk Mainz-Weisenau. Inmitten industrieller Echtzeit-Kulisse gilt es, Arbeitsrhythmen, Lärm und Geräusch als musikalische Kunst zu begreifen und selbst zu erzeugen. Theater-Elemente kommen dabei ins Spiel, das Erlebnis von Stille als Klang, und die Erfahrung der Schüler, Teil einer Maschinerie und zugleich eines viele Sinne ansprechenden Kunstwerks zu sein. In doppelter Hinsicht ein Staub aufwirbelnder Start des Netzwerks „Spektrum Villa Musica“. So eindrücklich jedenfalls vermittelt es eine längere Deutschlandfunk-Sendung, die erste Netzwerk-Aktivitäten in Montabaur, Edenkoben, Grünstadt und Mainz zusammenfasst und manches Staunen auslöst: Soviel Engagement, Erfahrung und Professionalität im Umgang mit Neuer Musik gibt es in der Rheinland-Pfalz?
Autoren auf Reisen
Etwas bis dahin nicht Existentes, mancherorts vielleicht nicht einmal Denkbares beginnt sich zu entfalten. Noch etwas planlos hat der Deutschlandfunk zwei Konzerte dokumentiert, in Freiburg und Kiel, nächste Mitschnitte in Köln und Passau geplant, Autoren auf Reisen geschickt, ein Hörbuch koproduziert. Die Medienpartnerschaft ist noch nicht unterschriftsreif, nur die Fragen sind klar und gelangen jetzt auf den entscheidenden Tisch: Wer und was verbergen sich hinter dem bundesweiten Netzwerk Neue Musik? Wie stehen wir als nationaler Hörfunk dazu? Ist das für uns relevant, wie gehen wir damit um? Was kostet uns das, was bringt es? Ich überspringe an dieser Stelle den ambitionierten wie labyrinthreichen Findungsprozess, an dessen Ende zwei öffentlich-rechtliche Logos neben zwei privaten auf Website, Zeitschrift und anderen Publikationen neben dem Doppelsignet NNM – KSB für drei Jahre Platz nehmen sollten: Deutschlandfunk, Deutschlandradio Kultur, die Neue Zeitschrift für Musik und die neue musikzeitung samt der nmz Media verstehen sich fortan als die bundesweiten Medienpartner des Netzwerk Neue Musik.
Alle bislang nur unscharf Genannten sind sich gegen Ende des ersten Netzwerkjahrs darüber klar, dass die Förder-Initiative der Kulturstiftung des Bundes die geordnete Welt der deutschen Neuen Musik aufstört und womöglich verändern wird und deshalb begleitet, beschrieben und dokumentiert werden muss. Alles Praktische regeln die Redakteure. Ich erinnere mich an einen sehr lehrreichen Tag im Büro der Geschäftsführung in der Berliner Leibnizstraße, als Bojan Budisavljevic, Barbara Barthelmes und Harald Wiester Rainer Pöllmann (Deutschlandradio Kultur) und mir ausführlich skizzieren, dass und wie sich die Aufgabenfelder der 15 regionalen Netzwerk-Büros gemäß der Konstellationen vor Ort unterscheiden. In Passau zum Beispiel gilt es, überhaupt etwas wie avancierte Musik zu initiieren. In Köln sollen zahlreiche Kleinst-Initiativen eine gemeinsame Leitlinie finden. Niedersachsen will landesweit verstreute Akteure bündeln, und in Freiburg geht es um Koordination der berühmten Ensembles. Übergreifendes Ziel: der Neuen Musik, dem Schreckgespenst der Hochkulturwelt, die Maske des Unliebsamen, Ungenießbaren zu nehmen. Oder seriöser gesagt: Bund, Städte, Kommunen und Länder geben im jeweiligen Förder-Fall nicht wenig Geld, um Methoden und Formen zu finden, Neue Musik aller Art in der Gesellschaft verstärkt zu verankern und beiderseitige Berührungsängste zu mindern.
Das klang vielverheißend. Doch würde unser Part – Festivalmitschnitte, Werkanalysen, Komponisteninterviews eine Stunde vor oder nach Mitternacht in den Programmen von Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur, das gewohnte Instrumentarium des Musikjournalismus im Radio – dabei angemessen sein? Denn wie vermittelt und beurteilt man heute im Medium Hörfunk, wie sich an verschiedenen Orten zugleich neue Strukturen entwickeln, was in verschlossenen Proberäumen geschieht, wie sich auf einem Weihnachtsmarkt in Saarbrücken, in Augsburger Schulen oder in der Sächsischen Staatsoper Ohren für ungewöhnliche Klänge zu öffnen beginnen?
Festival „Farben“
Ein Highlight, an das ich gern denke, weil es verschiedene Türen aufschloss: das Festival „Farben“ des Netzwerk Musik 21 Niedersachsen im August 2009. Elke Moltrecht, Geschäftsführerin des Hannoveraner Büros, hatte die Sache schmackhaft gemacht: thematische Konzerte inmitten Hannoveraner Gärten, dazu ein gemeinsamer Auftritt aller wichtigen Ensembles des Landes inklusive der neu gegründeten Landesjugendformation. Der Deutschlandfunk muss da mit an Bord! Okay! Autor Hanno Ehrler wählt für seinen DLF-Beitrag später aus den entstandenen Aufnahmen aus, was künstlerisch besonders hochwertig war: Jonathan Harvey und Heather O’Donnell, Johannes Schöllhorn und das Nomos Quartett, Marc André und das Neue Ensemble. Dazu Statements von Komponisten und Machern und politischen Partnern – alles souverän in zwei Sendestunden verpackt, die Hannoveraner freuen sich sehr über diese Art Referenz. Ähnlich verhält es sich an anderen DLF-Abenden mit Konzertdokumenten aus Passau, vom ersten Kölner Schlüsselwerk-Wochenende, vom Festival Mehrklang in Freiburg, aus der Essener Philharmonie oder vom Dresdner Klangnetz. Spitzenensembles spielen namhafte Komponisten und Werke Neuer Musik. Und Stück für Stück – Bojan Budisavljevitch vergleicht uns mit Marathonläufern – kommt der Deutschlandfunk republikweit herum und in fast alle Netzwerkbüros. Doch den zentralen Punkt des Förderprojekts, den Vermittlungsaspekt, erfassen wir nicht.
„Mitklatsch-Beiträge“
Eines Tages muss ich dem Abteilungsleiter Musik im Kölner Funkhaus eingestehen, dass uns die Partnerschaft keine Mitschnitte bringt, die es nicht auch von anderswo gibt. Das Netzwerk bringt uns keine anderen, besseren oder opulenter zu sendenden Klänge ins Radio als übliche Konzerte mit Neuer Musik – ganz gleich, wie gründlich man sie mit Interviews, Kommentaren, Erklärungen unterfüttert. Selbst punktuell gut wirksame „Steve Reich-Mitklatsch-Beiträge“ mit musikalischen Kindern wirken mit der Zeit inflationär. Was also dann? Was tun wir?
Magdalene Melchers wird ins Rennen geschickt: In ihren mittlerweile berühmten Reportagen vermag sie das Deutschlandfunk-Mikrofon so nah ans konkrete Geschehen zu schieben, dass sich etwas vermittelt, das wirklich aufhorchen lässt. Es ist nicht das Lachenmann-Statement, es sind die Stimmen von musizierenden Laien, von Schülern, von Menschen, die sich naiv interessieren. Sie spricht mit Leuten, die zu staunen beginnen, die nach einer direkten Begegnung nicht mehr vollkommen zugeknöpft sind. Spontaner Erlebnischarakter, ungezügelte Vielfalt. Etwas so in der Art. Nicht Stars, konkrete Akteure vor Ort bevölkern die Sendungen, die plötzlich greifen, tiefer loten, komplexer dokumentieren. Nachhaltigkeit, das Zauber- und Pflichtwort: In Features aus Augsburg, Saarbrücken, Oldenburg und Rheinland-Pfalz vermittelt sich eine Ahnung davon. Auch an anderer Stelle zwingt, besser: lehrt das Netzwerk die Partner, sich zu bewegen: Die Neue Musik-Redakteure beider Deutschlandradio-Programme lernen dabei, sich zu koordinieren, Presseartikel abzustimmen, gemeinsame Jahrespläne zu machen.
Angelika Lefers-Eggers aus der Programmdirektion in Berlin aktiviert hinter den Kulissen – insbesondere beim Präsentieren vor Ort. Zum Highlight-Projekt „Sounding D“ schicken DKultur/Klangkunst und DLF/Neue Musik schließlich einen gemeinsamen Autor. Und DKultur/Musikproduktion dokumentiert in Eisenach die Konzerte. Zusammen, nicht gegeneinander – so Rainer Pöllmann von DKultur – können wir dem Auftrag, drei Jahre an 15 Orten zugegen zu sein, entsprechen. Hin und wieder haben wir ARD-Kollegen im Boot, immer wieder gibt es Erfahrungstausch mit Theo Geißler und Rolf W. Stoll. Ingólfsson, Dusapin, Schnittke, Takemitsu und Cage – eine musikalische Weltreise mit dem Landesjugendensemble von Schleswig-Holstein. Wir sind in Kiel, beim Festival Chiffren 2010, NDR und DLF zeichnen auf. Sendeautor Egbert Hiller attestiert, dass der ausschließlich mit Schülern besetzten Formation bei ihrem Debütkonzert künstlerisch zwar noch nicht alles gelingt, dass aber Neugier und Offenheit überzeugen. Veranstalter Friedrich Wedell hofft, dass die Beteiligten andere anstecken, mitreißen werden – dem Kieler Netzwerk Chiffren und der gleichnamigen Biennale geht es darum, in der Region Schleswig-Holstein Neue Musik neu zu installieren. – Was bleibt davon, wenn die KSB-Förderung Ende 2011 endet und man allein auf eigene Füße gestellt ist?
Die Frage beschäftigt im vergangenen Kalenderjahr alle 15 regionalen Netzwerk-Standorte. Bei einem Erfahrungsaustausch Anfang Mai 2010 im Keller der Alten Grammophonfabrik in Hannover, den Stephan Meier und ich vorbereiten, werden Engagement, Sorgen und Visionen aller Akteure schnell offenbar. Die mehrjährige Planungssicherheit bewerten viele als sinnvoll, die strenge Bindung an den im Vorfeld aufzustellenden Kostenplan als hemmend. Für die Zukunft erhoffen sich viele Netzwerker Hilfe vom zentralen Büro in Berlin. Die großzügige Förderung ist eindeutig auf vier Jahre begrenzt. War das eine vielleicht zu kurze Frist, um neue Strukturen zu schaffen, die von Stadt und Land und weiteren Partnern perspektivisch weiter finanziert werden können? Angesichts des Rückzugs der Öffentlichen Hand aus der Kulturförderung, angesichts auch der Finanzkrise haben vor allem die kleineren Netzwerke kaum Illusionen. Nach 2011 ist es bei uns wieder wie vor 2008 – prognostiziert eine ziemlich engagierte Akteurin. Was wird also aus den begonnenen Kooperationen, den begeisterten Machern, den Hörern, den geschulten Vermittlern? Was wird aus den Landesjugendensembles? Was wird aus Fabian Maul und Eva-Maria Preuss, wenn es für sie keine Fortführung gibt?
Allerdings – und ich bin dienstlich geradezu dazu verpflichtet – stellt sich mir auch die Frage, was wohl andernorts ist, wo Initiativen Neuer Musik auch ohne Netzwerk-Fördermaßnahmen agieren? Wie eigentlich leben und überleben die Randspiele Zepernick, die Neue Musik im Stadthaus in Ulm, die Nova im Alten Sendesaal Bremen, die Weimarer Frühjahrstage und andere, bei denen der Deutschlandfunk gleichfalls Anker in Sachen Neuer Musik auswirft? Und, sind dazumal jene, die opulent aufbauen konnten, was sie womöglich bald zurück fahren müssen, wirklich besser gestellt als andere, die Vermittlung Neuer Musik auch ohne sechsstellige Förderung durchführen müssen? Auch die Frage steht.
Den Vermittlungsgedanken jedoch, besser: den Vermittlungsauftrag als neues Regulativ zwischen Veranstaltern, Förderern, Urhebern, Publikum und Ausführenden, fegt nach vier Jahren Netzwerk Neue Musik keiner mehr so schnell vom Tisch. Diese Aufgabe bleibt, und das Bewusstsein dafür auch. Zum Zweiten: Vernetzung ist in der medialisierten Welt von heute und morgen ganz und gar unabdingbar. Ein Rückzug in den abgeschirmten Elfenbeinturm ist nicht nur für die Neue Musik perspektivisch unmöglich. Vielleicht auch, weil das im Deutschlandfunk Tradition hat, plädiere ich als Drittes für gezielte Nachwuchsarbeit. Auch wenn nach 2011 alle Netzwerker sinnvoll weitermachen könnten, so ist zeitgenössische Kunstmusik letztlich doch ein Eliteprojekt.
Und braucht Förderung, Pflege und Aufmerksamkeit. Der Deutschlandfunk bleibt als Partner im Boot. Ab 2012 werden wir alle heutigen Netzwerk-Standorte wieder aufsuchen und je nach Lage der Dinge berichten, was weiter lebt und wer wo etwas tut.
Frank Kämpfer, Redakteur Neue Musik im Deutschlandfunk