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Untrennbar mit Phylo- wie mit Ontogenese verknüpft: Musik machen und erleben. Unser Bild zeigt beispielhaft einen musikalischen Moment während des Berliner Festivals MaerzMusik 2017. Foto: Petra Basche
Untrennbar mit Phylo- wie mit Ontogenese verknüpft: Musik machen und erleben. Unser Bild zeigt beispielhaft einen musikalischen Moment während des Berliner Festivals MaerzMusik 2017. Foto: Petra Basche
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Unfall oder Motor der Evolution?

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Wie die Wissenschaft Fragen zur Relevanz von Musik beantwortet · Von Hans-Jürgen Schaal
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In den meisten Situationen unseres Lebens, in denen Musik erklingt, bildet sie nur ein angenehmes Hintergrundgeräusch. Wir konsumieren Musik als untermalendes Geklingel in Film und Fernsehen, als Begleitphänomen auf Partys und Autofahrten, als ablenkende Beschallung im Supermarkt oder bei der Hausarbeit. Musik hat dabei keine andere Funktion als etwa die Tüte Popcorn oder Chips, die man nebenbei nascht, damit es einem nicht langweilig wird. Musik ist die kleine Leckerei für zwischendurch, die uns bei Laune hält. Aus der Sicht des Neurowissenschaftlers Manfred Spitzer: „Musik bewirkt prinzipiell das Gleiche [...] wie beispielsweise Nahrung oder soziale Signale.“

Daran gemessen nehmen wir die Beschäftigung mit Musik doch erstaunlich ernst. Wir lehren und studieren sie auf Akademien und Hochschulen. Wir erklären sie zum wichtigen Bildungsgut und zum erhaltenswerten Kulturerbe. Wir widmen ihr unzählige Konzertreihen und Festivals. Wir fördern sie in Verbänden, Vereinen und Musikschulen. Wir diskutieren ihre Geschichte und Theorie. Wir veröffentlichen zahllose Bücher und Zeitschriften darüber. Wir unterhalten Orchester und Konzerthäuser. Wir debattieren über Kompositionstechniken, Instrumentalpraxis und philosophische Hintergründe. Schon vor mehr als 2.000 Jahren sinnierte Platon über den Charakter und Effekt der verschiedenen Tonarten.

Frage: Wie kommen wir eigentlich und überhaupt auf die Idee, dass die tönende Leckerei namens Musik einen besonderen humankulturellen Wert besitzt – anders als die Tüte Popcorn oder das süße Teilchen vom Bäcker? Haben Musikwissenschaft und Musikphilosophie jemals ausreichend die Relevanz ihres Gegenstands begründet?

Nüchtern betrachtet sind das Aneinanderreihen und Übereinanderlegen von Tönen, auch in raffinierter und komplexer Form, so bedeutungsfern und selbstgenügsam wie das Hantieren mit bunten Bauklötzchen. Musik bildet nicht ab und macht keine Aussagen, ist nur ein Daddeln in Klang, in „tönend bewegten Formen“, wie Eduard Hanslick es einmal nannte. Sind Komponisten und Musiker also einfach eine Horde von Nerds, die sich fanatisch und ausschließlich mit nutzlosem, zweckfernem, aber recht angenehmem Spielzeug beschäftigen? Was unterscheidet sie dann von Rätselerfindern, Spieleprogrammierern oder Zuckerbäckern?

Musik ist ein wichtiger Marktfaktor, das ist richtig. Millionen von Amateuren betreiben sie. Aber auch die Süßigkeiten-Industrie ist ein wichtiger Marktfaktor. Auch das Kuchenbacken wird von Millionen von Amateuren betrieben. Dennoch erklären wir das Kuchenbacken nicht zum akademischen Bildungsgut. Wir entwickeln auch keine Tortenphilosophie.

Auditory Cheesecake

Apropos Kuchen. Der Psychologe Steven Pinker beschrieb Musik tatsächlich einmal als „auditory cheesecake“, also: Käsekuchen für die Ohren. Er führte aus: „Zufällig kitzelt Musik einige wichtige Teile des Gehirns auf sehr angenehme Weise – so wie Käsekuchen den Gaumen kitzelt.“ Warum Käsekuchen? Kohlehydrate und Fette waren im Lauf der Evolution so wichtig, dass das Gehirn ihre Aufnahme mit Glücksgefühlen belohnt – das, so sagen die Forscher, sei das Erfolgsgeheimnis des Käsekuchens. Entsprechend, meint Pinker, verhalte es sich mit Musik. Weil sie verschiedene „Knöpfe“ im Gehirn auslöse, die auf Sprachstruktur, Emotion und Rhythmus reagieren, bringe Musik beglückende und sogar berauschende Wirkungen hervor.

Nach dieser Theorie beschäftigen wir uns mit Musik nur aus purer, hedonistischer Lust am ausgelösten Reiz – ähnlich dem Versuchstier in der Verhaltensforschung, das unermüdlich immer wieder auf dieselbe Taste drückt, um noch eine und noch eine Belohnung zu erhalten.

Für Pinker ist Musik ein Zufallsprodukt der Evolution, dessen Attraktivität allein auf dem Zusammenwirken vorhandener neurologischer Mechanismen beruht. Der Psychologe Da­niel Levitin fasst Pinkers Position so zusammen: „Musik ist einfach ein vergnügungssüchtiges Verhalten, das einen oder mehrere existierende Lustkanäle ausbeutet.“ Einmal vergleicht Pinker die Musik auch mit dem sogenannten „Zwickel“ in der Architektur, einem eigentlich unbedeutenden Bogenwinkel, der aber durch besonders hübsche Gestaltung das Interesse auf sich zieht. Für Pinker ist Musik nicht mehr als ein „evolutionärer Unfall“, ein marginales Phänomen: „Musik könnte aus unserer Spezies verschwinden, und der Rest unseres Lebensstils bliebe praktisch unverändert.“ Der Psychologe Dan Sperber spricht im gleichen Sinn von der Musik als einem „evolutionären Parasiten“.

Das semantische Potenzial

Wie passt dieser zufällig entstandene „Ohrenkitzel“ zu unserer hohen kulturellen Wertschätzung der Tonkunst? Oder anders gefragt: Gibt es überhaupt triftige Argumente für die Relevanz von Musik?

Der erste und wichtigste Einwand dagegen, dass Musik nur ein marginaler Parasit der Evolution sei, könnte lauten: Musik hat mit Kommunikation, menschlicher Verständigung und sozia­ler Gemeinschaft zu tun. Daher wird Musik häufig auch als eine Art „Sprache“ beschrieben – eine Sprache jenseits der Worte, eine Sprache der Seele, der Emotionen, der Menschheit: eine Ur-Sprache. Das ist einerseits nur eine Metapher, denn auch von großen Küchenmeistern sagt man gelegentlich, sie drückten sich durch ihre Kunst aus, sie „sprächen“ zum Gaumen.

Andererseits ist die Sprach-Analogie durchaus mehr als eine Metapher. Die moderne Hirnforschung zeigt, dass die neuronale Verarbeitung von Sprache und Musik sehr ähnliche Wege geht. Der Musikpsychologe Stefan Koelsch betont, „dass Musik und Sprache im Gehirn eng miteinander verknüpft sind und dass das Gehirn oft keinen wesentlichen Unterschied zwischen Sprache und Musik macht“. Auch wenn Musik letztlich unübersetzbar bleibt, suchen wir beim Hören von Musik nach Syntax und Struktur, Logik und Gestik, Bedeutung und Nuance – da ist ein großes semantisches Potenzial.

Das Musikalische scheint – auch in der frühkindlichen Entwicklung – die Grundlage des Sprachlichen zu sein und nicht etwa sein Parasit. Ist Sprache womöglich nur ein spezialisierter Sonderfall von Musik? Bekanntlich richten wir bei der Wahrnehmung gesprochener Sprache einen sehr geringen Anteil unserer Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Worte, aber einen sehr großen auf Melodie, Emotion und Rhythmus.

Universell und dauerhaft

Vieles spricht dafür, dass Musik nicht nur für die Sprache, sondern für viele Fähigkeiten des Menschen eine wichtige Grundlage bildet. Genau das, schreibt Stefan Koelsch, mache Musik „zu einem idealen Instrument zur Erforschung des menschlichen Gehirns“. Denn ob man sie selbst spielt oder sie nur hört: Musik befeuert praktisch alle Hirnareale, evolutionär alte und neue, und koppelt sie damit auf eine Weise zusammen, wie es keine andere menschliche Aktivität vermag.

Man könnte Musik daher als ein umfassendes Gehirntraining beschreiben. Wir üben durch sie Techniken des Wahrnehmens, Planens, Fühlens, Rechnens, Erinnerns, Unterscheidens, Sich-Bewegens. Wir lernen zu kooperieren und zu kommunizieren, Empathie zu empfinden, logisch zu denken. Wir lernen auch das Lernen selbst.

Der amerikanische Musikpsychologe Daniel Levitin meint: „Unter allen menschlichen Aktivitäten ist Musik ungewöhnlich sowohl durch ihre allgemeine Verbreitung [ubiquity] wie durch ihr Alter [antiquity].“ Für Levitin sind genau diese beiden Punkte die entscheidenden Argumente gegen die These, Musik sei nur ein Parasit der Evolution: „Keiner bekannten menschlichen Kultur heute oder zu irgendeiner Zeit [...] mangelte es an Musik. Einige der ältes­ten materiellen Artefakte [...] sind Musikinstrumente [...]. Wann immer Menschen aus irgendeinem Grund zusammenkommen, erklingt Musik.“ Wäre Musik nur ein evolutionärer Unfall, so meint Levitin, könnte sie kaum so universell und dauerhaft präsent sein.

Futter für komplexe Gehirne

Ist es vielleicht sogar denkbar, dass Musik kein Parasit, sondern ein Motor der Evolution war? „Brains and music co-evolved“, schreibt Levitin – Intelligenz und Musik entwickelten sich gemeinsam. Oder mit den Worten des Wissenschaftsjournalisten Harald Lesch: „Komplexe Gehirne brauchen Musik.“

Lange Zeit meinte die Wissenschaft, dass sich das große menschliche Gehirn im Zusammenhang mit Jagd- und Kampftechniken entwickelt habe. Dagegen glaubt der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer, große Gehirne seien vor allem als Indikatoren von Gesundheit und überschüssiger Energie evolutionär wichtig gewesen. Ihm gefällt die Vorstellung, dass sich das menschliche Gehirn zusammen mit Luxus-Aktivitäten wie Musik und Tanz entwickelte – lange bevor es seine Möglichkeiten auch in aggressive, welterobernde Taten umsetzte. Demnach wären Jagd- und Kriegstechniken nur zufällige Nebenprodukte einer musikorientierten Evolution.

Daniel Levitin schreibt: „Musik könnte die eine Aktivität sein, die unsere prä-humanen Vorfahren auf sprachliche Kommunikation vorbereitete sowie auf die sehr kognitive, begriffliche Flexibilität, die für die Menschwerdung notwendig war.“ Vielleicht ist Musik also das Gedächtnis der menschlichen Evolution. Vielleicht definiert sie genau das, was die Menschlichkeit des Menschen ausmacht – nicht zuletzt die Lust an seiner eigenen Intelligenz und die ständige, nutzlose, luxuriöse Veränderung der Parameter seines Denkens, Planens, Fantasierens.

Ist der Wandel in der Musik also der eigentliche Kern menschlicher Geschichte? Der Musikwissenschaftler Albrecht von Massow erinnert uns daran, dass der Philosoph Schopenhauer einst Musik als den unmittelbaren, primären Ausdruck des menschlichen Willens verstand, wogegen andere menschliche Äußerungen und Tätigkeiten nur „vermittelt“ seien. Daraus könnte man zum Beispiel ableiten, dass Politik nur eine Widerspiegelung von Musik sei. Und was sagt das nun über die Relevanz der Töne? 

Literatur (Auswahl)

  • Alexander Becker und Matthias Vogel (Hrsg.): Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik, Frankfurt/Main 2007.
  • Daniel J. Levitin: This Is Your Brain on Music. The Science of a Human Obsession, New York 2007.
  • Manfred Spitzer: Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk, Stuttgart 2002.

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