Die Glaubwürdigkeit von Komponisten – ob alt oder jung – sichert das Werk. Die Glaubwürdigkeit von Interpreten wird durch die partiturgerechte und technisch korrekte Wiedergabe des Werks offenbar. Und die Glaubwürdigkeit von Veranstaltern Neuer Musik?
Die Glaubwürdigkeit von Komponisten – ob alt oder jung – sichert das Werk. Die Glaubwürdigkeit von Interpreten wird durch die partiturgerechte und technisch korrekte Wiedergabe des Werks offenbar. Und die Glaubwürdigkeit von Veranstaltern Neuer Musik? Hier muss ich weiter ausholen. Ob einer ein guter oder schlechter Festivalleiter ist, entscheidet sich nicht an seinem begabten Programmentwurf und der perfekten Ausführung eines Festivals, sondern an der Flexibilität und Qualifikation im Koordinieren mannigfacher Bereiche.Dazu gehört nicht Partiturkenntnis allein, sondern die Fähigkeit, diese genau lesen zu können. Nach mehr als zwanzig Jahren Partiturlektüre (das sind wenigstens 5.000 Partituren neueren oder neuesten Datums) bildet sich eine Erkenntnisfähigkeit, die derjenigen der Komponisten, die als Lehrer an Musikhochschulen lehren, gleicht. Erkenntnisfähigkeit schließt gerade mit ein, auf Partituren, die etwas Neues an klingenden Unbequemlichkeiten, an verblüffenden oder auch verstörenden formalen Erfindungen, an überraschenden Instrumentationen, an Schreibweisen in der Notation, an kühnen Verflechtungen mit Außermusikalischem offen legen, mit besonderer Aufmerksamkeit einzugehen.
In fast allen Fällen sind das Partituren, die zunächst einmal überhaupt nicht von den Interpreten, die sie dann zu interpretieren bereit oder dazu angestelltenhalber gezwungen sind, auf große Liebe stoßen. Was hier Veranstalter und Redakteure Neuer Musik an oft schier unüberwindlichen Problemen aus der Welt zu schaffen gefordert sind, wissen nur diejenigen, die solche Positionen haben. Sie sind ja nicht nur Konzertgestalter und Aufführungsverursacher, sie sind im besseren Falle kritische Freunde, zumindest aber Mentoren derjenigen, die Kompetenz im Gespräch erhoffen.
Zur Qualifikation gehören aber noch ganz andere grundständige Dinge: Mut mit und Mut gegen den Strom zu schwimmen, wobei diese Metapher eine Klischeemetapher ist. Wer ist denn der Strom und wer ist denn da der Schwimmer?
Schwimme ich gegen den Strom, wenn ich gewissenhaft unbekannten jungen Komponisten eine Aufführungsmöglichkeit ihres Werkes möglich mache oder schwimme ich nicht viel stärker gegen den Strom, wenn ich zwei lang dauernde Kompositionen Wolfgang Rihms in einem Neue-Musik-Festival setze, die zwar uraufgeführt aber niemals wieder aufgeführt worden sind und ich sie wieder aufführen möchte, weil sie etwas sprechen, was ich als Veranstalter zu einem Publikum sprechen lassen möchte, weil es etwas spricht, das nichts anderes so sprechen kann?
Es gehört auch Charakterlosigkeit dazu... zu diesem komplizierten Beruf, der alles verlangt, was man Fingerspitzengefühl zu nennen pflegt. Aber gleichgültig, wie man es auch machen wird, immer werden mit jeder Entscheidung die erfreut Aufgeführten und die wütend Vernachlässigten sich auf ihre Weise zu Wort melden. Jede Entscheidung dafür ist immer zugleich eine Entscheidung dagegen. Solange es noch immer Hunderte von Werken gibt, die ausschließlich in den wenigen überregionalen Festivals Neuer Musik aufgeführt werden wollen, bleibt es bei diesen unbeabsichtigten „Gerechtigkeiten“ und „Ungerechtigkeiten“.
Warum gehört – und das meine ich unrhetorisch ernst – Charakterlosigkeit dazu? Weil sie dem Verantwortlichen hilft, sich unangreifbar zu machen, keine rein ichbezogenen Vorlieben zu pflegen, sondern das persönlich Nichtgewollte zu programmieren. Und gerade das Problematische, Spaltende ist oft das Bewegendere. Gerade in der Verantwortung der wenigen Veranstalter Neuer Musik muss diese vielfältige Gesichtslosigkeit sein. Wer sich die Mühe macht, die Programme bedeutender Festivals auf die aufgeführten Komponisten hin zu untersuchen, wird alles andere als konsequente Bevorzugung bestimmter Komponisten feststellen können.
Völlig verblödet kommt mir die Frage nach den „Entdeckern“ vor. Manchmal kann es ein Moment eines Werkes innerhalb von 25 Kompositionen sein, der etwas frei setzt, was den Furien im Aufstand gegen die Gewohnheit gleicht. Allein ein solcher Augenblick gibt zurück, wofür man oft drei bis vier Tage Festivalbesuchszeit geopfert hat. Zum Entdecken solcher Momente braucht man, wenigstens im Bereich der Musik, nur die Ohren. Solche Momente sind für jeden Hörer verschieden. Das sind die Wunder der uneinheitlichen Wahrnehmungsfähigkeit von Individualitäten.
Die professionalisierten „Entdecker“ sind parfümierte Modeknechte. Zu entdecken gibt es in jedem Mist. Diejenigen sind souverän, die den Gestank aushalten. Und schweigen. Und lieben. Und die trotz eines gewissen Vereinsamtseins unter den sich Nichteinfühlenwollenden in die Tätigkeiten von Veranstaltern fördern und zwar vielleicht viel Mist für alle diejenigen, die eines Tages etwas hören wollen, was groß und vollkommen zu sein beschenkt ist.
Alles andere ist Gegackere von Hühnern, die gerne Hahn wären.
(Künstlerischer Leiter von ECLAT, Festival für Neue Musik Stuttgart/ Redakteur für Neue Musik, SWR Stuttgart)